Tages-Anzeiger

Der 1893 in Zürich gegründete „Tages-Anzeiger“ ist die Keimzelle und das publizistische Aushängeschild des Schweizer Medienkonzerns Tamedia. Anders als das international renommierte Elitenblatt „Neue Zürcher Zeitung“ ist der „Tages-Anzeiger“ eine reine Stadtzeitung, wenn gleich mit überregionalem Anspruch. Der „Tagi“, wie ihn die Züricher nennen, hat in den vergangenen zehn Jahren ein Viertel seiner Auflage verloren. Doch weiterhin ist er mit 213.738 verkauften Exemplaren (2008) die auflagenstärkste Abonnementzeitung der Schweiz.

Während Tamedia als unpolitischer Konzern gilt, der vornehmlich auf ökonomisches Handeln bedacht ist, gründet der Ruf des „Tagi“ auf seiner Ausrichtung als linksliberale, kritische Qualitätszeitung. Diesen Ruf verdankt sie einer eigenwilligen Redaktion, der ein gewisser Dünkel nachgesagt wird. Doch ihr Selbstbewusstsein ist angekratzt: Sie fürchtet um die Qualität und die Bedeutung ihres Blattes. Seit Jahren schrumpft der Redaktionsetat, das Blatt kämpft gegen Reichweiten- und damit Anzeigenverluste. Dies ist vor allem dem Erfolg der Gratiszeitungen geschuldet. Der „Tagi“ versucht der Entwicklung durch Regionalisierung, den Ausbau der Online-Aktivitäten und durch den Verbund mit der konzerneigenen Pendlerzeitung „News“ zu begegnen. Der Relaunch im Herbst 2009, vorangetrieben von einem wenige Monate zuvor berufenen Chefredakteur-Duo ist nicht nur zur Modernisierung des Blattes gedacht, sondern ebenso wie der Stellenabbau in der Redaktion, Teil eines Sparpakets. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie trotz Sparzwang die Zukunft des „Tages-Anzeigers“ als Qualitätsblatt gesichert werden kann.

Basisdaten

Hauptsitz:
Werdstrasse 21
8004 Zürich, Schweiz
Telefon: +41 44 248 44 11
Telefax: +41 44 248 44 71
Internet: www.tagesanzeiger.ch (Zeitung),
www.tamedia.ch (Verlag)

Branche: Regionalzeitungen, Lokalzeitungen, Gratiszeitungen, Zeitschriften, Druckereien, Radiosender, Fernsehsender, Online-Angebote
Rechtsform: Aktiengesellschaft
Geschäftsjahr: 01.01. – 31.12.
Gründungsjahr: 1983

 

Tab. I: Ökonomische Basisdaten (in Mio. CHF)
2009200820072006200520042003
Umsatz897743658650567569
Gewinn (Verlust) nach Steuern10614398805018
Dividende (pro Aktie in CHF)3432,51,500
Aktienkurs (Jahresende; in CHF)50147160128106110
Beschäftigte251326391893183915181919

Unternehmensleitung

Aufsichtsrat

  • Pietro Supino, Präsident, Vorsitzender des Publizistischen Ausschusses, des Ernennungs- und  Entlöhnungsausschusses und des Geschäftsentwicklungsausschusses

  • Robert Karrer, Vizepräsident, Präsident des Revisionsausschusses

  • Konstantin Richter, Mitglied des Revisionsausschusses und des Publizistischen Ausschusses

  • Iwan Rickenbacher, Mitglied des Publizistischen Ausschusses und des Geschäftsentwicklungsausschusses

  • Andreas Schulthess, Mitglied des Revisionsausschusses und des Ernennungs- und Entlöhnungsausschusses

  • Karl Dietrich Seikel, Mitglied des Ernennungs- und Entlöhnungsausschusses

  • Charles von Graffenried, Mitglied des Geschäftsentwicklungsausschusses

 

Vorstand

  • Martin Kall, Unternehmensleitung (Stellvertreter: Christoph Tonini)

  • Ueli Eckstein, Espace Media

  • Rolf Bollmann, Zürich & Nordostschweiz (u.a. „Tages-Anzeiger“)

  • Christoph Tonini, Medien Schweiz

  • Urs Schweizer, Verlagsservices

  • Sandro Macciacchini, Finanzen

 

Redaktion „Tages-Anzeiger“

  • Markus Eisenhut und Res Strehle, Chefredakteure

  • Peter Wälty, Chefredakteur Newsnetz / tagesanzeiger.ch

  • Marcel Tappeiner, Verlagsleiter

 

Besitzverhältnisse: Die Tamedia AG ist seit 2000 ein börsennotiertes Unternehmen. Mehrheitlich gehört sie der Gründerfamilie Coninx. 21 Mitglieder der in der Vergangenheit nicht immer harmonisierenden Familie sind über einen Aktionärsbindungsvertrag in einem Pool zusammengeschlossen. Ihnen gehören 71,8 Prozent der Kapital- und Stimmrechtsanteile. Weitere Familienmitglieder, die diesem Pool nicht angehören, halten weitere Aktien. Der Anteil frei handelbarer Aktien soll mittelfristig auf etwa 33 Prozent erhöht werden.

Geschichte und Profil

Ende des 19. Jahrhunderts ist Zürich geprägt von einer Phase wirtschaftlichen Aufschwungs. In der Bevölkerung wächst das Selbstbewusstsein der Arbeiter. Die Stadt steigt durch Eingemeindungen zur größten der Schweiz auf. Im Kanton Zürich erscheinen 41 Zeitungen, die in erster Linie zur parteipolitischen Meinungspresse zu zählen sind und insgesamt eine Auflage von 161.000 Exemplaren erreichen.

In dieser Zeit beschließen der deutsche Verleger Wilhelm Girardet aus Essen und Fritz Walz, ein ehemaliger Redakteur der „Neuen Zürcher Zeitung“, eine parteipolitisch ungebundene Zeitung des Typs „Generalanzeiger“ zu gründen: ein informatives Blatt mit hoher Auflage, das wenig kostet und sich durch Inserate finanziert. Leserbriefe, frauenaffine Unterhaltungselemente wie ein Fortsetzungsroman sowie Berichte aus dem lokalen Umfeld sind Grundelemente der Startausgabe des „Tages-Anzeigers“ vom 2. März 1893. In den ersten Wochen werden die 43.000 Exemplare der 16-seitigen Zeitung gratis verteilt. Drei Jahre später ist der „Tages-Anzeiger“ die erfolgreichste Zeitung Zürichs.

Die Macher der Zeitung erweisen sich als innovativ: 1904 führen sie „Zeitbilder“, eine Beilage mit Fotos, ein. Die Auflage steigt kontinuierlich bis zu Beginn des ersten Weltkriegs, als Papierknappheit das Wachstum unterbricht. 1918, zum 25-jährigen Jubiläum des „Tages-Anzeigers“, gründet der Verlag eine „Darlehens- und Hülfskasse“ für die Zeitungsträgerinnen, eine Vorgängereinrichtung der 1921 eingeführten Pensionskasse. Das bringt dem Verlag das Image eines sozialen Arbeitgebers ein.
1926 nimmt Otto Coninx, der Schwiegersohn des Gründers Girardet, die Schweizer Staatsbürgerschaft an, der Verlag des „Tages-Anzeiger“ wird zu einer originär Schweizer Aktiengesellschaft, die wirtschaftlich prosperiert. 1961 erfolgt der Umzug in die Werdstraße, dem heutigen Sitz des Konzerns. 1964 führt er als erster Schweizer Verlag die Frühzustellung ein. Während andere Zeitungen erst am Nachmittag in den Verkauf gehen, liegt der „Tagi“ bereits frühmorgens auf dem Tisch des Lesers.

Die Politisierung des „Tages-Anzeigers“ beginnt mit den Studentenunruhen der Sechzigerjahre. Ökologische Themen finden Einzug in das Blatt, das sich zunehmend als Gegengewicht zur bürgerlich-konservativen „NZZ“ positioniert. Der „Tages-Anzeiger“ polarisiert. Leser protestieren, kündigen ihr Abonnement; Politiker verweigern sich, ebenso wie Anzeigenkunden. In diese Zeit fällt die Gründung des politisch links akzentuierten „Magazins“, das dem „Tagi“ fortan einmal wöchentlich beiliegt. Das „Magazin“ entspricht dem Geist der Siebzigerjahre. Mit seinem Verständnis von engagiertem, kreativem Journalismus, verdient sich das „Magazin“ über die Schweizer Grenzen hinaus Beachtung. Ein Inserateboykott der Schweizer Autoindustrie – nicht der letzte seiner Art – trägt zum Ruf des „Tagi“ als unabhängiges Blatt bei. 1973 gibt sich die Redaktion ein Statut, das die publizistische Grundhaltung und das Verhältnis zwischen Geschäftsleitung und Redaktion definiert. Die Zeitung verkauft zu dieser Zeit 235.000 Exemplare, sie fährt Rekordgewinne ein. Der Verlag beginnt zu expandieren, kauft Zeitschriften, steigt 1986 in den Markt des Privatfernsehens ein und gründet im Herbst 1987 die „Sonntagszeitung“. Binnen fünf Jahren verdoppelt sich der Umsatz auf 510 Millionen Schweizer Franken, der von 2.100 Mitarbeitern erwirtschaftet wird.

In dieser Zeit schwillt zwischen Redaktion und Verlag des „Tages-Anzeigers“ ein Konflikt an. Die Redaktion ist personell in den vergangenen Jahren gewachsen, statt klarer Strukturen gibt es eine Art Selbstverwaltung durch basisdemokratisch gewählte „Dienstleiter“. Wichtige Entscheidungen werden in Arbeitsgruppen gefällt. Dem Verlag begegnet die Redaktion zunehmend misstrauisch, zumal die damalige Konzernführung ihr eine wirtschaftsfeindliche Berichterstattung vorwirft. Der Wunsch des Verlags, mit dem „Tagi“ Geld zu verdienen, scheint in unlösbarem Widerspruch mit dem öffentlichen Auftrag zu stehen, dem allein sich die Journalisten des Blattes verpflichtet fühlen. Versuche, in die Redaktion einzugreifen, lassen die Redaktion um die innere Pressefreiheit fürchten. Sie begehrt auf, als es darum geht, hierarchische Strukturen einzuführen. Es kommt zum Eklat. Die Unruhen finden landesweite Beachtung und enden 1991 mit dem Rücktritt des Direktionspräsidenten.

Im Januar 1992 übernimmt Hans Heinrich Coninx die operative Verantwortung im Verlag. Neuer Chefredakteur des „Tages-Anzeigers“ wird Roger de Weck, der später an die Spitze der „Zeit“ wechseln wird. Dem intellektuellen Kopf gelingt es beim „Tages-Anzeiger“, die Redaktion zu strukturieren und den Drang nach Mitsprache zu bändigen. Zugleich führt er eine klare Trennung von Kommentar und Nachricht ein und forciert investigativen Journalismus. An der publizistischen Grundhaltung des linksliberalen Blattes rührt er nicht. 1993, zum 100-jährigen Bestehen des „Tages-Anzeigers“, gibt der Verlag ein Buch heraus, das die Geschichte des Blattes insbesondere mit Blick auf den beendeten Streit zwischen Verlag und Redaktion aufarbeitet. Die Offenheit zeugt vom guten Willen. Die Redaktion fühlt sich gestärkt, zumal der Verlag aus dem „Tagi“ eine Zeitung mit ähnlich hoher nationaler Ausstrahlung machen will wie die benachbarte „NZZ“. Der Grund ist ein ökonomischer: Nur so kann der nationale Anzeigenmarkt ausgeschöpft werden. Der Verlag investiert.- doch lange hält die Ruhe in der Redaktion nicht vor.

1997 verlässt Roger de Weck den „Tages-Anzeiger“ im Streit über Sparmaßnahmen, denn der Verlag will im privaten TV-Markt investieren. Ein stetig sinkender Redaktionsetat wird beim „Tagi“ fortan jährliches Ritual. Gleichzeitig senkt der Verlag seine Abhängigkeit vom „Tages-Anzeiger“. Tamedia strebt an die Börse, steigt in den Markt der Gratiszeitungen ein und stellt sich im Printgeschäft wie multimedial breiter auf. Darunter leidet die unter ökonomischem Zugzwang stehende Redaktion. Das Blatt verliert an Reichweite, das Anzeigengeschäft schrumpft. 2009 ist das Gratisblatt „20 Minuten“, ebenfalls aus dem Hause Tamedia, mit 32,1 Prozent Reichweite bzw. 1,37 Millionen Lesern die meistgelesene Zeitung der Schweiz. Sie erwirtschaftet ähnlich hohe Gewinne wie der lange Jahre mit Abstand größte Gewinnbringer des Verlags, der „Tages-Anzeiger“. Der Spardruck erhöht sich, ebenso die Befürchtung der Redaktion vor Qualitätsverlusten. Der Verlag beteuert, die Qualität des „Tages-Anzeigers“ soll nicht angetastet werden.

Management

Tamedia gilt als ein Haus, das sich aus der Redaktionsarbeit heraushält und sich gegenüber starken Persönlichkeiten im Haus liberal zeigt. Politischer Ehrgeiz ist Tamedia fremd. „Ein Zeitungsunternehmen ist zuerst ein wirtschaftliches Unternehmen. Sein Überleben hängt vom wirtschaftlichen Erfolg ab.“ Das war die Devise des mehr als 30 Jahre an der Spitze des Konzerns stehenden Hans Heinrich Coninx; das ist auch die Devise seines Nachfolgers Pietro Supino, der seit Mai 2007 als Verleger fungiert. Quersubventionierung kennt der dezentral organisierte Konzern nicht. Jeder Titel muss sich rechnen. Nur so müsse ein Blatt nicht hinter Anzeigenkunden herlaufen, nur so bleibt es wirtschaftlich unerpressbar und damit journalistisch unabhängig, heißt es bei Tamedia. Supinos Vorgänger Coninx hatte begonnen, Tamedia multimedial aufzustellen und in den Markt der Gratiszeitungen einzusteigen, indem er 2003 dem skandinavischen Konzern Schibsted „20 Minuten“ abluchste und Tamedia einverleibte. Hans Heinrich Coninx war es auch, der das Unternehmen an die Börse brachte, um ausstiegswillige Familienmitglieder auszahlen zu können. Als die Internet-Blase platzt, verordnet er dem Unternehmen und nicht zuletzt dem „Tages-Anzeiger“ von Herbst 2001 an mehrere Sparrunden.

Der zurückhaltende Jurist und ehemalige Unternehmensberater Pietro Supino, Jahrgang 1965, gilt als publizistisch denkender Ökonom mit Sinn für die Regeln und Notwendigkeiten des journalistischen Geschäfts. Er ist der Neffe von Hans Heinrich Coninx und der Ur-Ur-Enkel von Wilhelm Girardet. Die wohlhabende Familie vertritt er in nunmehr fünfter Generation.

Das Tagesgeschäft führt Martin Kall, ein Deutscher Jahrgang 1961. Der frühere Bertelsmann-Manager wechselt 2002 von Ringier an die Spitze der Tamedia-Unternehmensleitung. Kall, ein auch privat als sparsam geltender Zahlenmensch, achtet auf Dezentralität. Die Geschäftsbereiche sind in Profitcenter strukturiert.
Die Bedeutung des „Tages-Anzeigers“ innerhalb des Verlags ist noch immer groß, doch sie schwindet. Das liegt nicht zuletzt am Grad seiner Wirtschaftlichkeit. Seinen Ruf innerhalb der Branche verdankt der „Tages-Anzeiger“ auch der Tatsache, dass er die mit Abstand wirtschaftlichste Zeitung der Schweiz war. Er ernährte den Verlag. Noch immer verdient der „Tagi“ gutes Geld, doch Umsatz wie Geschäftsergebnis entwickeln sich seit Jahren rückläufig.

Geschäftsfelder

Die „Süddeutsche Zeitung“ gilt der Redaktion als Vorbild, anders als der Verlag der Münchner Zeitung betreibt der „Tages-Anzeiger“ jedoch keine Nebengeschäfte jenseits des vor allem im Abonnement vertriebenen Blattes – etwa mit Buch- oder CD-Editionen. Die Reichweite des „Tagi“ zu stabilisieren, um im Anzeigengeschäft zu bestehen, ist bei Tamedia oberste Priorität. Drei Wege sollen zum Ziel führen: Ein Weg führt über das Nebenprodukt „News“, neben „20 Minuten“ die zweite Pendlerzeitung des Konzerns. „News“ führt den Titel des „Tages-Anzeigers“ prominent im Logo und positioniert sich auch inhaltlich und optisch in der Nähe des „Tagi“. Der strategische Nutzen liegt in der gemeinsamen Vermarktung. Der „Tages-Anzeiger“ leidet wie alle Schweizer Zeitungen unter Reichweitenverlusten und der Überalterung der Leser. Das lässt die Anzeigenpreise als überhöht erscheinen. In Gratiszeitungen zu werben ist günstiger. Obendrein sind sie bei jungen Lesern beliebter – und nicht nur bei ihnen: Familienmitglieder aus Haushalten mit einem „Tagi“-Abonnement lesen die Zeitung zu Hause nicht mehr mit, sondern informieren sich stattdessen auf dem Weg zur Arbeit kostenlos in einem der überall in der Stadt präsenten Pendlerblätter. Das wirkt sich auf die Reichweitendaten aus:   2009 erreicht der „Tages-Anzeiger“ 479.000 Leser meist gesetzteren Alters, das entspricht einer Reichweite von 11,3 Prozent und einem Minus von 8.000 Lesern im Vergleich zum Vorjahr. „News“ erzielt eine Reichweite von 6,5 Prozent und damit 276.000, im Durchschnitt jüngere Leser. Entsprechend sinnvoll erscheint Tamedia die gemeinsame Vermarktung, obgleich „News“ defizitär ist.

Der zweite Weg zur Stabilisierung der „Tagi“-Reichweite soll über die seit 2006 verfolgte Regionalisierung führen. Das hat einen Verdrängungswettbewerb zur Folge, für den Tamedia eine Investitionsphase von zehn Jahren eingeplant hat. Fünf Regionalausgaben gibt es im Umland Zürichs. Den Anfang machte die Ausgabe „Zürichsee/Linkes Ufer und Sihltal“, bald darauf folgten „Zürichsee/Rechtes Ufer“, „Zürcher Unterland“, „Zürcher Oberland“ und „Stadt Zürich“. Die Regionalsplits erscheinen bis zum Relaunch des „Tages-Anzeigers“ im Herbst 2009 als eigenes, sechstes Buch. Im Zuge des Relaunchs wandern die Regionalsplits als Wechselseiten in das zweite Zeitungsbuch, den wegen des Stadtwappens so genannten „Blauen Bund“ mit Berichten aus Stadt und Region. Als schwierig erweist sich die von Repressionsversuchen durch lokale Kunden geprägte Anzeigenakquise – wenngleich weniger das lokale Werbegeschäft im Vordergrund steht als besagte Hoffnung, den Lesermarkt zu stabilisieren, um so die Ausgangssituation der Zeitung bei nationalen Großkunden zu verbessern. Weitere Ausgaben neben den fünf bestehenden Regionalsplits sind nicht vorgesehen.

Der dritte Weg zur Stabilisierung der Reichweiten führt über das 2008 gegründete „Newsnetz“. Zu dem Online-Verbund gehören neben dem mit Abstand meistgenutzten Online-Auftritt des „Tages-Anzeigers“ jene der „Basler Zeitung“ und der „Berner Zeitung“, die zugleich Gesellschafter von „Newsnetz“ sind. Kooperationspartner sind die konzerneigenen Blätter „Thurgauer Zeitung“ und der Berner „Bund“. „Newsnetz“ funktioniert nach dem Prinzip einer Mantelredaktion. Jeder der Online-Auftritte hat eigene Redakteure, die lokale Berichte beisteuern; sie sind über ihre jeweils eigene Adresse aufzurufen und entsprechen optisch ihren gedruckten Zeitungspendants. Die „Mantel“-Berichte stammen aus der „Newsnetz“-Redaktion. Seit Sommer 2009 arbeiten die Redaktionen von „Newsnetz“ und „News“ in einem gemeinsamen Newsroom, der vom „Tages-Anzeiger“-Produktionsraum, dem „Schiff“, durch eine Wendeltreppe getrennt ist. Tamedia hofft auf weitere Kooperationspartner für das „Newsnetz“. Vorgesehen ist, dass „Newsnetz“ von 2011 an kostendeckend arbeitet. Investiert wird aktuell in den Auf- und Ausbau von Mobil- und Video-Aktivitäten sowie in Ausgangsplattformen für Zürich, Bern und Basel.

Die „Vier-Säulen-Strategie“, wie Verlagschef Martin Kall das Maßnahmenmodell bezeichnet, basiert auf einem „qualitativ hochwertigen Mantel“ und der regionalen Verankerung des gedruckten „Tages-Anzeigers“, der Pendlerzeitung „News“ und dem Online-Netzwerk. Ziel sei es, im Verbund mit den anderen Medien schneller Leser zu gewinnen als der „Tagi“ allein verliert.

Aktuelle Entwicklungen und Ausblick

Der Bedeutungsverlust des „Tages-Anzeigers“ für den familiengeführten Konzern hat sich durch die Expansion der vergangenen Jahre erhöht. Das Wachstum soll die Unabhängigkeit von Tamedia sicherstellen. Nach dem Kauf der Espace Media Groupe (Umsatz 2008: ca, 173 Mio Euro) im Jahr 2007, noch viel mehr jedoch durch den im Frühjahr 2009 bekannt gewordenen, ca. 174 Millionen Euro teuren Kauf des Schweizer Geschäfts von Edipresse, ist Tamedia auf dem Weg zum nationalen Medienhaus, wie es Verleger Pietro Supino formuliert. Im Jahr 2008 erwirtschaftete Edipresse einen Gesamtumsatz in Höhe von 565,6 Millionen Euro. Im Ranking der umsatzstärksten Verlage wird Tamedia nach vollzogener Fusion mit Edipresse an die zweite Stelle nach Ringier rücken. Bezogen auf den Inlandsumsatz wird Tamedia Ringier (Umsatz 2008 in der Schweiz: 719,1 Mio Euro) wohl auf den zweiten Platz verweisen. Tamedia wird dann mit Ausnahme von Basel in drei der vier wichtigsten Schweizer Wirtschaftszentren – also in Zürich, Bern und Genf – die jeweils größte Abonnementzeitung verlegen.

Die Fusion mit Edipresse ist ein Gang über Sprachgrenzen hinweg . Während Tamedia vor allem in der Deutschschweiz aktiv ist, agiert Edipresse (Tribune de Genève“, „24 Heures“, „Le Matin“) in der Romandie. Beide sind börsennotierte Familienunternehmen und geben sowohl  Regional- wie Pendler- und Sonntagszeitungen sowie Zeitschriften heraus und verfügen über Online-Plattformen im Nachrichten- und Rubrikengeschäft. Beide sind komplementär auf unterschiedlichen geographischen Märkten unterwegs, zusammen decken sie die Deutsch-Schweiz und Romandie ab. Die Tamedia-Führung sieht in Edipresse eine gute Ergänzung, zumal sie in Bereichen wie Druck und Technik Synergien in zweistelliger Millionen-Höhe (CHF) errechnet hat. Die Fusion von Edipresse und Tamedia soll schrittweise bis Anfang 2013 erfolgen. Möglicherweise steht dann eine Umstrukturierung des Konzerns an – etwa nach Gattungs- statt geographischer Gesichtspunkte. 
Trotz der Bemühungen dürfte der „Tages-Anzeiger“ innerhalb des Konzerns weiter marginalisiert werden. Dem entgegen wirken Überlegungen, ihn als Herzstück des Konzerns zu bewahren und  gleichzeitig vom fortschreitenden Spardruck zu entlasten. Darauf deutet der konzerninterne Wechsel des bis Ende April 2009 amtierenden „Tagi“-Chefredakteurs hin. Peter Hartmeier ist mittlerweile Verleger der Huber & Co. AG, die in der Nordostschweiz die „Thurgauer Zeitung“ herausgibt. Zumindest diskussionswürdig erscheint Tamedia, die redaktionellen Ressourcen des „Tages-Anzeigers“ für die bestehenden und möglicherweise hinzukommenden Regionalblätter zu nutzen. Auch sie kämpfen mit rückläufigen Leser- wie Anzeigenmärkten. Für Milderung könnten enge redaktionelle Kooperationen unter Führung des „Tagi“ sorgen. 

Erste Erfahrungen könnte die Kooperation zwischen dem „Tages-Anzeiger“ und dem Berner „Bund“ liefern. Das 1850 gegründete Traditionsblatt, das schon viele Eigentümer hatte, ist seit Jahren defizitär. Im Mai 2009 entschied Tamedia, den „Bund“ neben der „Berner Zeitung“ zu erhalten, indem er mit dem „Tagi“ kooperiert. Zu dem Plan gehören eine gemeinsame, paritätisch besetzte Bundeshausredaktion und der Austausch von einzelnen Berichten bis hin zu ganzen Seiten. Überregionales soll aus Zürich geliefert werden. Gleichzeitig wurde die 230 Stellen zählende Redaktion des „Tagi“ um 50 Vollzeitstellen gestutzt und muss mit einem erneut verringerten Honorarbudget haushalten.

Bei Redaktionsschluss dieses Beitrags liefen die Vorarbeiten zum Relaunch, mit dem sich der „Tagi“ von September 2009 an visuell wie inhaltlich neu präsentiert. Die erste umfassende Überarbeitung seit 1997 ist dem Sparzwang geschuldet, um mit einer kleineren und neu strukturierten Redaktion ein Blatt von möglichst nicht geringerer Qualität zu produzieren. Erarbeitet wurde der Relaunch in einer Arbeitsgruppe, in die das seit Frühjahr 2009 amtierende Chefredakteurs-Duo involviert war. Der Vollblutjournalist Res Strehle, der 2007 vom „Magazin“ als Vize-Chefredakteur zum „Tagi“ wechselte, teilt sich das Tagesgeschäft im wöchentlichen Wechsel mit dem eher als Macher und Manager geltenden Markus Eisenhut, ehemals Chef von „20 Minuten“ und zuletzt Co-Chef der „Berner Zeitung“. Während Strehle für Politik, Kultur, Gesellschaft und Wissen verantwortlich ist, kümmert sich Eisenhut um Lokales, Wirtschaft und Sport. Im neuen „Tagi“ sind die Ressorts Wirtschaft und Sport in einem Buch zusammengefasst. Damit gliedert sich die Zeitung nicht mehr in fünf beziehungsweise  sechs Bücher(inklusive Regionalsplits), sondern nur noch in vier. Eine vollintegrierte Print- und Online-Redaktion ist ausdrücklich nicht geplant. Bei Nachrichten zählt der gedruckte „Tagi“ nun jedoch auf die Zusammenarbeit mit der „Newsnetz“-Redaktion. Das Chefredakteurs-Duo will auf diese Weise mit einer kleineren Redaktion mehr Eigenleistung in der gedruckten Zeitung bieten können. Denn trotz aller Maßnahmen soll der Spagat gelingen, den „Tages-Anzeiger“ als hochwertige Qualitätszeitung zu erhalten.

Referenzen/Literatur