Manfred Mai: Altes Denken, neue Medien. Die traditionellen Prämissen des Rundfunksystems und die digitale Welt.

02.09.2011

Das deutsche Medienrecht nach 1945 beruht auf den Konsequenzen der damaligen Besatzungsmächte für die Neuordnung des Rundfunks, der nach BBC-Vorbild als öffentlich-rechtliches System angelegt wurde. Auch mit Hilfe dieses Rundfunks sollten die Deutschen zur Demokratie erzogen werden. Als Strukturprinzipien der Medienlandschaft nach 1945 wurden daher Staatsferne und Pluralismus festgeschrieben. Zudem wurde Rundfunk als kulturelle Angelegenheit gesehen und fiel somit in die Kompetenz der Länder.

Innovationen wie Satellitenfernsehen, Mobilfunk und das Internet haben die Medien in den vergangenen drei Jahrzehnten wesentlich verändert. Hinzu kommt, dass die Legitimation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in jüngster Zeit immer häufiger in Frage gestellt wird. Die Politik wurde von der Medientechnik immer wieder vor vollendete Tatsachen gestellt: Während man in Deutschland noch über die Details für die Zulassung privaten Fernsehens stritt, sahen die Zuschauer längst das Programm von RTL. Auch das Kabelfernsehen hatte sich bereits durchgesetzt, als man in Kommissionen noch darüber debattierte, ob zu viel Fernsehen überhaupt gesellschaftlich sinnvoll sei.

Die Regulierung des Rundfunks, heute ein duales System mit öffentlich-rechtlicher und privater Säule, ist auch heute von den Leitbildern der analogen Nachkriegszeit inspiriert, während das Internet weitgehend unreguliert bleibt: Im Netz gibt es weder Rundfunkräte noch Beauftragte für besondere politische Anliegen. Darüber hinaus stellt die neue digitale Medienwelt mit ihrer Vielzahl von Anbietern und Programmen die Grundlagen der deutschen Medienregulierung in Frage, die durch ein politisch austariertes System des Binnen- und Außenpluralismus die Meinungsvielfalt sichern will.

Niemand hat diese Entwicklungen voraussehen können
Im Folgenden sollen zentrale Prämissen des deutschen Rundfunksystems vor dem veränderten Hintergrund der gegenwärtigen Struktur des Mediensystems reflektiert werden. Diese zentralen Prämissen sind Pluralismus, Staatsferne und einheitliche Rezeptionsgewohnheiten eines weitgehend homogenen Publikums.  Während Pluralismus und Staatsferne unmittelbare Konsequenzen für die Struktur des Rundfunksystems haben, ist die Voraussetzung eines bestimmten Rezeptionsverhaltens eher für die Aufsicht über die Inhalte relevant. Im analogen Zeitalter nach dem Krieg wurden diese Prämissen von niemandem in Frage gestellt. Kontrovers waren allerdings die Mittel und Wege, wie sie realisiert werden sollten, wie beispielsweise die Alternative zwischen Binnen- oder Außenpluralismus. Auch die Unterstellung eines mehr oder weniger standardisierten Rezeptionsverhaltens führte zu Regulierungen etwa beim Jugendschutz oder bei der Frage über die Ausgewogenheit politischer Magazine im Fernsehen.

In der digitalen Medienwelt ist zu fragen, ob die traditionellen Prämissen für die Medienregulierung noch tragfähige Grundlagen und Leitbilder sind: Droht zum Beispiel ein Missbrauch durch eine Partei, wenn es Hunderte von Kanälen im digitalen Fernsehen und staatsferne Plattformen im Netz gibt und sich zudem die Produktions- sowie Rezeptionsgewohnheiten grundlegend geändert haben?

Die bestehende Rundfunkregulierung geht dagegen immer noch von der Vorstellung eines weitgehend passiven Publikums aus. George Orwells Roman „1984“ wurde zur negativen Utopie der Medien schlechthin. Das Bild vom „Big Brother“ wird immer dann zitiert, wenn die Manipulation durch Medien als Gefahr beschworen wird. Aber: Gibt es derzeit in Deutschland jemanden, der alle Medienkanäle kontrollieren kann und will? Die Eigentümer der großen Medienunternehmen – oft Investoren oder medienferne Branchen – haben weniger politische oder publizistische Visionen als klare Vorstellungen über Rendite-Erwartungen. Die Komplexität und Vielfalt der heutigen Medienwelt ist der tradierten Rundfunkordnung – Gleichgewicht zwischen Öffentlich-Rechtlichen und Privaten – davongelaufen.

Niemand hat diese Entwicklungen einigermaßen präzise voraussehen können.  Prognosen erweisen sich oft als Fortschreibung erkennbarer Trends. Systembrüche wie die Digitalisierung sprengen jedes Prognosemodell. Viele Prämissen der Rundfunkregulierung entsprechen nicht mehr dem Stand der Medienforschung: Ist der Rezipient wirklich passiv und wehrlos? Braucht er Schutz und Orientierung oder reicht die individuelle Medienkompetenz, um sich in der Medienwelt zu bewegen? Sind Medienprodukte wirklich in erster Linie ein Kulturgut? Besteht in Deutschland die Gefahr einer Medienbeherrschung durch einen dominanten Akteur?  Ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk der Garant für einen besseren Journalismus?
Sucht der Rezipient nur politisch Korrektes und kulturell Wertvolles und kann ihmanderes nicht zugemutet werden?

Leitbilder der Medienordnung nach 1945
Auch im Internet-Zeitalter behalten die Anforderungen, die an ein Mediensystem zu stellen sind, ihre Gültigkeit: Eine Demokratie ist essentiell auf Kommunikation angewiesen. Der Pluralismus moderner und multikultureller Gesellschaften muss sich auch in den Strukturen der Medien wiederfinden. Auch im Mediensystem gibt es Spannungen zwischen Regulierung und Selbstverantwortung und zwischen formeller Gesetzgebung und informeller Governance. Wie viel Selbstverantwortung kann das Mediensystem vertragen und welche Instrumente garantieren, dass die demokratietheoretische Funktion der Medien nicht gefährdet wird?

Das Leitbild zur Neuordnung der Medienlandschaft nach dem Zweiten Weltkrieg war von den Erfahrungen im deutschen Faschismus geprägt. Nie wieder sollten Presse, Film und Rundfunk als Machtinstrumente in die Hände totalitärer Politiker geraten. Als Basis jeder demokratischen Medienordnung gilt auch die Erkenntnis, dass zur demokratischen Verfassung eine politische Kultur gehört, die sich erst im Diskurs, an dem jeder Bürger teilnehmen kann, entfaltet. Kommunikation gehört zu den Vorraussetzungen einer Demokratie, die sie selbst nicht schaffen kann. Die Existenz formaler Rechte schafft noch keine lebendige Demokratie; sie braucht Bürgerinnen und Bürger, die für diese Idee einstehen und denen die Existenz von freien Medien etwas bedeutet: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ (Wolfgang Böckenförde).

Bei der Gestaltung der Medienordnung nach 1945 ging der Gesetzgeber weniger von Medientheorien aus als von historischen Erfahrungen. Hinzu kam die Erkenntnis, dass Medien eine essentielle Funktion für die Meinungsbildung in einer demokratischen Gesellschaft haben. Dieser Bezug zur Demokratietheorie ist auch in den „Rundfunkurteilen“ des Karlsruher Bundesverfassungsgerichts zu finden. In ihnen wird insbesondere dem Fernsehen eine besondere Wirkung zugebilligt und gerade deshalb seien besondere Vorkehrungen gegen ein Meinungsmonopol notwendig. Eben dieses drohe, falls die Medien in einer –politischen oder privaten – Hand konzentriert wären. Mediengesetzgebung dient im Wesentlichen der Verhinderung von Medien- und damit Meinungsmonopolen.

Das Leitbild der Rundfunkurteile ist eine pluralistische Gesellschaft, die im Austausch von Argumenten das Richtige findet. Dieses am Pluralismus orientierte Leitbild unterscheidet sich von der Vorstellung eines volonté général, den es zu finden und durchzusetzen gilt. Eine pluralistisch geprägte Gesellschaft muss dagegen bei jeder Frage nach dem jeweiligen und jederzeit revidierbaren Kompromiss suchen. Und dazu bedarf es insbesondere auch der Medien als Institution für das Räsonnement der Gesellschaft.

Während die Rundfunkurteile des Bundesverfassungsgerichts eher allgemeine
Grundsätze zur Gestaltung des Rundfunksystems darstellen, sind die Rundfunkstaatsverträge und Mediengesetze der Bundesländer konkreter. So wird zum Beispiel in Paragraph 21 des ZDF-Staatsvertrags festgelegt, dass der Fernsehrat 77 Mitglieder hat, die den gesellschaftlichen Pluralismus repräsentieren. Ähnliche Regelungen finden sich in den Landesmediengesetzen über die Landesrundfunkanstalten der ARD. Nur durch den Pluralismus in den Organen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten werde die Forderung nach Meinungsvielfalt gesichert.

Die Technik ist der Schrittmacher
Mit dem Aufkommen des privaten Rundfunks entstand eine neue Herausforderung.  Jetzt galt es, zwischen dem öffentlich-rechtlichen System und dem Privatfunk ein Gleichgewicht zwischen zwei politischen Zielen zu finden: zum einen die Sicherung einer freien Meinungsbildung im Sinne von Artikel 5 des Grundgesetzes und zum anderen die Schaffung neuer Arbeitsplätze durch eine weitgehende Liberalisierung der Medien, insbesondere der Telekommunikation. Zum wirtschaftspolitischen Motiv, durch die Liberalisierung der Medienmärkte eine neue Wachstumsdynamik zu entfalten, kam das medienpolitische Motiv, das öffentlichrechtliche „Meinungsmonopol“ zu brechen. Statt Pluralismus in den Gremien sollte ein Pluralismus der Anbieter das leisten, was das öffentlich-rechtliche System nach Ansicht seiner Kritiker alleine nicht schaffte: die Vielfalt gesellschaftlicher Interessen wiederzugeben.

Die derzeitige Struktur der Massenmedien in Deutschland ist das Ergebnis
langjähriger Auseinandersetzungen zwischen den Parteien und der Medienwirtschaft,
aber auch zwischen Bund, Ländern und der EU in Brüssel. Das Grundprinzip -
die Sicherung der Meinungsvielfalt – wird in den zahlreichen medienpolitischen Kontroversen nicht in Frage gestellt. Strittig waren und sind die konkreten Maßnahmen, wie dieses Ziel zu erreichen ist.

Je mehr Akteure sich im Bereich der Medien engagierten, umso heterogener wurden die Interessen, die es auszutarieren galt. Jeder Rundfunkänderungsstaatsvertrag ist das Ergebnis eines Gleichgewichts dieser Interessen zu einem bestimmten Zeitpunkt, der bei der nächsten Innovation wieder neu ausgehandelt werden muss. Ein Beispiel dafür ist die heftig umstrittene Frage, was der öffentlich-rechtliche Rundfunk im Internet darf und was nicht. Jede Aktivität von ARD und ZDF im Netz greift in die Märkte von Verlagen ein, die durch den Aufbau neuer Geschäftsfelder im Netz ihre Verluste aus dem Kerngeschäft kompensieren wollen. Alles dies konnten die Architekten der Medienordnung nach 1945 nicht wissen. Es sind im Wesentlichen die Innovationen der Technik und die Dynamik der Märkte, die immer wieder neuen Regulierungsbedarf schaffen.

Mit jeder medientechnischen Innovation musste der Gesetzgeber die bestehenden
Gesetze novellieren, um Ziele wie die Sicherung der Meinungsvielfalt und den
Schutz vor Medienkonzentration zu erreichen. Die technische Konvergenz zwischen
Rundfunk und Telekommunikation, die im analogen Zeitalter weitgehend voneinander getrennte rechtliche (Rundfunk- vs. Telekommunikationsrecht) und
politischen Welten (Bundes- vs. Länderkompetenz) waren, führte auch zur rechtlichen und institutionellen Konvergenz, ohne allerdings zu einem einheitlichen Kommunikationsrecht zu verschmelzen. Die Technik ist der Schrittmacher nicht nur für das Recht, sondern auch für neue Geschäftsmodelle und Nutzungsoptionen, die ihrerseits einen Regulierungsbedarf hervorrufen. Die Verfasser des Grundgesetzes konnten diese Entwicklung nicht voraussehen, als sie ihre Grundprinzipien für eine demokratische Rundfunkordnung festschrieben.

Eine weitere Prämisse der damaligen Zeit waren die impliziten Vorstellungen
von der Rezeption, den Medienwirkungen und vom Publikum. In vielen Köpfen
der Rundfunkpolitiker der Nachkriegsgeneration war noch die Allgegenwart des
„Volksempfängers“ präsent. Weitere Impulse erhielt die Debatte um die Neugestaltung
der Medien in den 1960er Jahren durch die Beiträge von Jürgen Habermas
sowie von anderen kritischen Wissenschaftlern (Oskar Negt, Alexander Kluge)
und Publizisten (Hans Magnus Enzensberger). Sie sahen zum Beispiel im Springer-
Konzern ein Symptom für die „vermachteten Medien“, die es zu demokratisieren
gelte. Diese am Ideal der direkten Demokratie orientierten Vorstellungen waren in
den Diskussionen der 1970er Jahre über die „neuen Medien“ präsent, als die
Einführung des Kabel- und Satellitenfernsehens und die Zulassung privater Rundfunkveranstalter die medienpolitische Agenda bestimmten. Zusammen mit den
historischen Erfahrungen sollten diese Argumente begründen, warum nur ein
Gleichgewicht zwischen den gesellschaftlichen Kräften unter dem Prinzip der
Staatsferne verhindern kann, dass die Medien zu einem Instrument der Repression
werden.

Das Internet als Leitmedium der Gegenwart
Grundrechte haben auch unter geänderten Umständen bestand. Daher ist zu fragen: Was bedeuten die in Artikel 5 des Grundgesetzes fixierten Rechte auf ungehinderten Zugang zu Informationen und freie Meinungsäußerung im Internet-Zeitalter, wo Bilder der Handykameras von Bloggern und „Leserreportern“ um die Welt gehen? Die Zivilgesellschaft hat längst die Medien erobert und nutzt sie für ihre Zwecke.

Die Forderung nach Medien, die eine freie Meinungsbildung ermöglichen, war von den Erfahrungen mit deren Instrumentalisierung durch die Politik motiviert.  Doch auch die Gefahr, dass erneut eine Verlagsgruppe wie einst der Hugenberg-Konzern die Medien kontrolliert, wurde in den Rundfunkgesetzen und -urteilen immer wieder gesehen. Als Lösung wurde das Modell eines Rundfunks geschaffen, das diese beiden Risiken strukturell ausschließen sollte. Rundfunk sollte nicht der Politik, sondern der Gesellschaft gehören. Wirtschaftliche Interessen waren zunächst kategorisch ausgeschlossen, wurden aber später unter Auflagen ermöglicht, die kontinuierlich gelockert wurden. Bis heute gibt es Kontroversen darüber, ob der Markt von sich aus das Kollektivgut Medien schafft oder ob es dazu staatlicher Eingriffe bedarf, weil ein Marktversagen offensichtlich sei.

„Die Gesellschaft“, das waren in den Vorstellungen der Rundfunkregulierer die in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten institutionalisierten Rundfunkräte.  Deren pluralistische Zusammensetzung sollte politische Einseitigkeiten des Programms verhindern. Rundfunk war nach einhelliger Ansicht der Gründerzeit des Fernsehens eine primär kulturelle Angelegenheit. Die Rundfunkgremien haben auch die Aufgabe, über die Qualität der Sendungen und den Kulturauftrag zu achten. Nur die besondere Qualität, die der freie Markt nicht hervorbringt, rechtfertige die Existenz und insbesondere die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durch Gebühren (demnächst: die Haushalts- und Betriebsstättenabgabe).

All dies wird heute vor allem von den privaten Medienunternehmen in Frage
gestellt: Die besondere Qualität öffentlich-rechtlicher Sendungen, die Rolle des
öffentlich-rechtlichen Rundfunks als Garant von Meinungsvielfalt, sein Kulturauf trag und nicht zuletzt seine Gebührenfinanzierung. Diese Fragen sind nicht nur politisch relevant, sondern sie sind auch für die Medienwissenschaft von Interesse.  Schließlich basiert das traditionelle Modell des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auf einigen medien- und demokratietheoretischen Annahmen. Die gegenwärtige Struktur der Medien ist dadurch geprägt, dass sich anbahnt, dass das Fernsehen in seiner Funktion als Leitmedium vom Internet abgelöst wird. Damit wird endgültig die analoge Welt durch die digitale mit ihren vielfältigen Interaktionsmöglichkeiten ersetzt beziehungsweise erweitert. Denn die alten Medien müssen ja nicht zwangsläufig komplett verschwinden, wenn neue auftreten. Fest steht: Die Medienlandschaft wird immer heterogener.

Sowohl die Produktion als auch die Rezeption medialer Inhalte sind fragmentiert.
Die Gründe dafür liegen auch im Strukturwandel der Gesellschaft. Moderne Gesellschaften bestehen aus mehreren soziokulturellen Milieus. Diese unterschiedlichen Milieus haben völlig unterschiedliche Interessen an den Medien – vom passiven Konsum einfacher Fernsehshows (Stichwort „Unterschichtenfernsehen“) bis zum selbstbestimmten Nutzen interaktiver Medien. Die Medien haben auf die fragmentierte Öffentlichkeit reagiert und bieten entsprechend formatierte Inhalte an. Sie reagieren auf den sozialen Wandel, da sie ihre Legitimation und ihre Werbeerträge wesentlich aus der Akzeptanz und der Reichweite beziehen.

Trotz dieser Änderungen in der Produktion und Rezeption medialer Inhalte wird in den Diskussionen über die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks am Ideal einer weitgehend homogenen Gesellschaft festgehalten. Dieter Stolte war zum Beispiel überzeugt: „Die große Gefahr einer solchen Flut von Kanälen und der damit verbundenen Aufsplitterung der Zuschauerschaft in immer kleinere Interessengruppen liegt darin, dass sie zur Fragmentierung der Gesellschaft beiträgt und somit den gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozess erheblich behindert. Fernsehen verliert dann seine Funktion als Forum des freien und öffentlichen Diskurses, büßt seine integrative Kraft ein. Öffentlichkeit als konstitutives Element einer freiheitlichen Gesellschaft zerfällt in unterschiedlich informierte Teilöffentlichkeiten, öffentliche Meinungsbildung als unabdingbares Lebenselixier der Massendemokratie kann dann nur partiell stattfinden.“

Das Ergebnis ökonomischer Umbrüche
Die Zuschauer des öffentlich-rechtlichen Fernsehens etwa sind schon seit längerem überwiegend jenseits des 50. Lebensjahres. Die Angebote interaktiver Medien gehen größtenteils an ihnen vorbei. Umgekehrt verhält es sich mit den Jugendlichen: Sie beziehen ihre Informationen weniger aus den Magazinen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als vielmehr durch das Internet. Die Politik hat diesen Generationenabriss erkannt und ARD und ZDF zu Programmreformen ermutigt. Allerdings hat das ZDF bislang mit keiner Programmreform verhindert, dass seine Zuschauer immer älter werden. Auch diese Entwicklungen waren am Neubeginn des Rundfunks nicht voraussehbar.

Die aktuelle Medienlandschaft ist weniger das Ergebnis politischer Planungen als das Ergebnis technischer und ökonomischer Umbrüche. Dabei hat es nie an normativen Leitbildern gefehlt, die den Planungen der medialen Zukunft zugrunde lagen. So stritten sich die Parteien zum Beispiel in den 1970er Jahren über zusätzliche Angebote im Kabelfernsehen, in den 1980er Jahren über Bildschirmtext und Telearbeit und in den 1990er Jahren über die Privatisierung der Telekommunikation.

All diese Kontroversen basieren auf Modellen, die sich zwei ordnungspolitischen
Lagern zuordnen lassen. Zum einen ist es das Modell, dem zufolge der Bürger in erster Linie politisch aktiv ist, wobei er die Medien selbstbestimmt und im Interesse des Gemeinwohls nutzt. Medien dürfen im Rahmen dieser Sicht auf keinen Fall dem Markt überlassen bleiben, sondern gehören in öffentlich-rechtliche Hände. Auf der anderen Seite gibt es das Modell, das davon ausgeht, dass der Zuschauer vor allem an guter Unterhaltung interessiert ist und von den Medien entsprechende Angebote erwartet. Diese wiederum können nur dann entstehen, wenn sich im freien Spiel des Medienmarkts eben die Angebote durchsetzen, die den tatsächlichen Interessen dieser Zuschauerschaft entsprechen.Keines der medienpolitischen Lager kann sich ungetrübt über seine Erfolge freuen. Zwar gibt es in der digitalen Medienwelt auch eine Vielfalt von Beteiligungsmöglichkeiten, in der jeder Empfänger zugleich Sender sein kann – genauso wie es Bert Brecht forderte. Allerdings meinte er wohl kaum die Chats bei Facebook oder die Kommentare zu den Clips bei YouTube.

Andererseits ist der mediale Wettbewerb auch nicht so verlaufen, wie sie es sich dessen Protagonisten in den 1960er/1970er Jahren vorgestellt hatten: nämlich dass privater Rundfunk ein Gegengewicht zum „öffentlich-rechtlichen Meinungsdiktat“
bilden könne. Politik findet bei den Privaten, wenn überhaupt, als Politainment statt. Diesbezüglich ist der konservativen Elite das Niveau des Privatfunks bis heute geradezu peinlich – aber es ist die Konsequenz aus der Liberalisierung
der Medienmärkte. Auch die erhoffte größere Angebotsvielfalt ist nicht eingetreten
- statt dessen more of the same und Konvergenz der Formate.

Der aktive Zuschauer, das unregierbare Internet
Nicht erst seit der Zunahme interaktiver Möglichkeiten ist das Publikum nicht mehr so passiv, wie es von der traditionellen Mediengesetzgebung unterstellt wird.  Diese versucht etwa, den Zuschauer vor gefährdenden Inhalten zu schützen, ohne die Fragen geklärt zu haben, welche Inhalte wen gefährden. Es gibt darüber unter Wirkungsforschern keinen Konsens, der der Gesetzgebung zugrunde gelegt werden könnte. So bleibt es bei Einschätzungen pluralistisch besetzter Jugendschutzgremien oder ähnlicher Kreise. Angesichts der Verfügbarkeit fragwürdigster Inhalte im Internet ist es müßig, über den Sinn der Selbstkontrolle in Film und Fernsehen zu spekulieren.

Gerichtsurteile über die Verbreitung von Nazi-Propaganda, Kinderpornografie und persönlichen Beleidigungen im Netz geben im Prinzip auf die Frage, wer durch Medien gefährdet ist, die richtigen Antworten: Es sind jeweils konkrete Rechte, die verletzt werden. Die Debatten darüber zeigen aber auch, dass man diese Rechte abwägen muss gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung. Diese Grenzen gilt es jeweils zu ziehen: Ab wann ist eine Meinungsäußerung Propaganda und wo ist die Grenze etwa zwischen Kunst und Pornografie? Diese Diskurse sind nicht neu, doch die Möglichkeiten des Internets haben ihnen eine neue Aktualität verliehen, ohne neue Antworten zu geben.

Die Zuschauer sind in ihrer Gesamtheit keine Opfer. Von daher geht auch der Manipulationsverdacht durch einen „Big Brother“ ins Leere. Hinzu kommt, dass es durch die Vielfalt der Medienanbieter kaum noch einer einzigen Macht gelingen könnte, dies alles ihren Interessen unterzuordnen. Das Internet ist aufgrund seiner dezentralen Struktur im Prinzip unregierbar. Partielle Abschaltungen wie etwa im Iran oder in China sind bekanntlich nie total wirksam. Immer wieder gibt es Videos von Fotohandys, die ihren Weg ins Netz finden. Auch totalitären Regimen im Analogzeitalter ist es nie gelungen, ihre inszenierte Scheinwelt vor externen Einflüssen abzuschotten.

Medien sind zu dem geworden, was viele Medienpolitiker eigentlich verhindern wollten: ein globaler Markt, auf dem Sendeformate, Filmrechte und Technologien gehandelt werden, die ihre eigene Dynamik entfalten. Diese Dynamik erfolgt anscheinend ohne erkennbares Ziel. Prognosen über die zukünftige Medienwelt sind in der Regel nach wenigen Jahren bereits überholt. Dies liegt zum Teil daran, dass die Fantasie der Nutzer der der Entwickler fast immer voraus ist. In bestimmten Subkulturen entstehen immer wieder Trends, die auf der ganzen Welt verbreitet werden: SMS, Twitter, Apps, um nur einige zu nennen. Kaum eine von diesen Optionen wurde bewusst geplant; sie wurden allerdings schnell vermarktet, sobald sich eine dieser Optionen durchsetzte.

Durch den globalen Wettbewerb in fast allen Medienmärkten ist eine Dynamik entstanden, die kaum zentral gesteuert werden kann. Die Dynamik selbst ist politisch gewollt, nicht aber all deren Folgen. Für die Politik stellt sich nun das Problem, wie die aus wirtschaftspolitischen Gründen gewollte Liberalisierung gestaltet werden kann. Demokratische Strukturen werden nicht automatisch durch eine unregulierte Medienwelt gestärkt, wie einige Protagonisten der virtuellen Demokratie glauben. Etablierte journalistische Standards wie das Recht auf Gegendarstellung, die Identität der Quellen oder die sprachliche Qualität scheinen in den neuen Medien kaum noch eine Rolle zu spielen.

Doch neben der kulturkritischen Klage über den vermeintlichen Verfall spielen auch demokratietheoretische Bedenken eine Rolle. Droht durch die totale Medialisierung ein Funktionsverlust für die Verfassungsorgane, wenn wichtige Debatten in den Parlamenten von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen werden, dafür aber ihre verkürzte Diskussion in immer mehr Talkshows?  Auch die Regierung sieht sich im Medienzeitalter veranlasst, die Darstellungspolitik gegenüber der Sachpolitik stärker zu betonen. Wegen der Allgegenwart von Medien erhöht sich für alle politischen Akteure der Kommunikationsstress, da sie in immer kürzeren Abständen auf immer mehr Informationen reagieren müssen.

Die klassischen Vorbilder der Demokratie kannten diesen Kommunikationsstress
nicht und setzten daher auf den parlamentarischen Diskurs als Mittel der
Konsensfindung. In der Massengesellschaft ist Demokratie nur in ihrer repräsentativen
Form realistisch und es bleibt die Frage, wie das Mediensystem gestaltet sein muss, um begründete politische Entscheidungen zu ermöglichen, die zugleich ein hohes Maß an Legitimation aufweisen. Ein mögliches Modell ist das des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Ein anderes ist das des freien Medienmarkts. Die Empirie hat gezeigt, dass sich beide Modelle von ihrem jeweiligen Idealtyp entfernt haben: Weder funktioniert der Binnenpluralismus der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zufriedenstellend noch der Außenpluralismus des freien Medienmarkts. Die Frage ist, ob diese Grundmodelle in der digitalen Medienwelt überhaupt noch Sinn machen.

Die Idee der Governance
In der digitalen Welt ist es kaum noch möglich, die Vielzahl der Sendekanäle unter eine zentrale Kontrolle zu bringen und sie für eine bestimmte politische Richtung zu instrumentalisieren. Eben diese Gefahr wurde bei Medienmogulen wie Axel Springer oder Leo Kirch gesehen, die aus ihrer parteipolitischen Orientierung im Übrigen keinen Hehl machten. Die Mediengesetzgebung konzentrierte sich daher auf die Verhinderung vertikaler und horizontaler Monopole auf allen relevanten Medienmärkten (wie etwa das Verbot, gleichzeitig Lieferant und Sender von Filmen zu sein). Die technischen und finanziellen Zugangsschwellen für Fernsehveranstalter, die als Hauptgründe für die strenge Rundfunkgesetzgebung genannt werden, spielen im Internet keine Rolle mehr. Heute kann jeder ein Sender und Empfänger im Word Wide Web sein.

Die Idee der Governance ist im Kontext internationaler Beziehungen entstanden, wo es unterschiedliche Interessen verschiedener Akteure gibt und die Frage der Durchsetzung von Zielen wesentlich von Verhandlungen abhängt. Allerdings ist durch das Fehlen eindeutiger Hierarchien auch die Durchsetzung von Zielen erschwert. Governance ist die Erweiterung bisheriger Steuerungsmodi um informale Elemente. Hinzu kommt eine Ausweitung des Akteursspektrums auf nichtstaatliche Akteure. Damit rücken die Potenziale gesellschaftlicher Selbstregulierung in den Mittelpunkt.

Im analogen Zeitalter war die Regulierungswelt überschaubar: Die für die
Rundfunkgesetzgebung zuständigen Länder haben jeweils für ‘ihre‘ Landesrundfunkanstalten Landesrundfunkgesetze erlassen. Die Beziehungen zwischen Rundfunkveranstaltern und Politik waren weitgehend formalisiert: Jede Novellierung des Landesrundfunkgesetzes wurde im Vorfeld gemeinsam erörtert und nach der
Anhörung in den Parlamenten verabschiedet. Mit dem Auftauchen global agierender Medienunternehmen ist dieses Regulierungsmuster aufgebrochen. Diese und andere Akteure wie Banken, Netzbetreiber, Kommunen oder Mobilfunkunternehmen in ein Verhandlungssystem einzubinden, ist schwieriger als im analogen Zeitalter. Ihre unterschiedlichen Interessen lassen sich nicht leicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Die Regulierung durch nationales Medienrecht stößt vor allem durch die Globalisierung und Konvergenz der Medienmärkte schon lange an Grenzen.

Auch in anderen Politikbereichen gibt es die Frage nach Alternativen zum Recht und nach dem jeweiligen Verhältnis zwischen Fremd- und Selbststeuerung.  Als Faustregel gilt: So viel Selbststeuerung wie möglich und so viel Fremdsteuerung wie nötig. Selbstregulierung setzt voraus, dass die Akteure in der Lage sind, Vereinbarungen zu treffen und durchzusetzen, ohne das Gemeinwohl aus dem Auge zu verlieren. Dem Staat obliegt im Fall des Versagens der Selbstregulierung die Durchsetzung von Mindeststandards etwa beim Jugend- und Verbraucherschutz. Ohne den Schatten staatlicher Sanktionen besteht bei der Selbstregulierung die Gefahr eines Marktversagens.

Im Bereich der Medien gibt es unter anderem mit dem Presserat, mit Einrichtungen
freiwilliger Selbstkontrolle für Film und Fernsehen und mit der ICANN
(Internet Corporation for Assigned Names and Numbers) ebenfalls eine Tradition der Selbstregulierung, die jeweils durch Gesetze ergänzt wird. Durch die Folgen der Digitalisierung wurden jedoch zugleich die Grenzen der Selbstregulierung sichtbar. Als neues Paradigma liegt daher auch im Bereich der Medien der Steuerungsmodus der Governance nahe. Damit wird es zur Aufgabe der Politik, die Selbststeuerungspotenziale relevanter Akteure zu stärken und sie noch mehr in
Verhandlungssysteme einzubinden.

Die Auswüchse einer sich libertär gebenden Netzgemeinde
Auch durch die Änderung der Rezeptionsgewohnheiten der Zuschauer –eine weitere Prämisse aus der Anfangszeit der Rundfunkregulierung – ist die Gefahr nicht mehr so absolut, dass die Gesellschaft einem Mogul ausgeliefert ist.  Die Gefahren der digitalen Medienwelt sind weniger der alles beherrschende „Big Brother“ oder Medienmagnat, sondern eher die Auswüchse einer sich libertär gebenden Netzgemeinde, die hinter jedem staatlichen Eingriff das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung bedroht sieht und jede Schnittauflage eines Jugendschutzgremiums als Zensur denunziert.

Was wären nun die Konsequenzen mit Blick auf die geänderte digitale Medienwelt? Zu Beginn dieses Beitrags wurde nach der Gültigkeit der Prämissen im Digitalzeitalter gefragt, die der Neuordnung des Rundfunks nach 1945 zugrunde lagen. Es zeigt sich, dass die historischen Erfahrungen eine nachvollziehbare Grundlage für die Gestaltung der Medien waren. Aber Bill Gates ist nicht Alfred Hugenberg und das World Wide Web ist nicht die Ufa der 1930er Jahre. 

Für die Wissenschaft ergeben sich damit Fragestellungen, wie der Zugang zu den Medien und die Teilhabe am gesellschaftlichen Diskurs heutzutage geregelt werden können, wenn das Rundfunkratsmodell diesen Zweck nicht (mehr) erfüllt.  In den aktuellen Diskursen gibt es ein breites Spektrum von Vorschlägen, wie das geschehen kann – von staatsfreien Selbstkontrolleinrichtungen des Cyberspace bis zur Modifizierung der bestehenden Medienaufsicht. So sehr die historischen Erfahrungen für die digitale Medienwelt antiquiert sind, so aktuell sind die demokratietheoretischen Prämissen. Es ist eine Aufgabe von Politik und Wissenschaft, jedes Modell einer Medienordnung an seinem Beitrag zu messen, den gesamtgesellschaftlichen Diskurs auch unter veränderten technischen und ökonomischen Rahmenbedingungen zu ermöglichen. Die traditionellen Prämissen des analogen Rundfunks sind von der Realität überholt und deshalb kaum geeignet, als Modell für die Zukunft zu dienen.

Manfred Mai, 58, ist Professor am Institut für Politikwissenschaft der Universität
Duisburg-Essen.

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