Haaretz

Flaggschiff der „Haaretz“-Gruppe ist die gleichnamige Tageszeitung. Mit einer Auflage von rund 75.000 Exemplaren an israelischen Werktagen (sonntags bis donnerstags) und bis zu 100.000 am Wochenende (freitags) liegt sie formal nur auf Platz drei der hebräischsprachigen israelischen Kaufzeitungen. Spitzenreiter ist das Massenblatt „Jediot Acharonot“ („Letzte Nachrichten“) mit werktags ca. 350.000, am Freitag 700.000 Exemplaren und einem Marktanteil von 56 Prozent. Dahinter folgt „Maariv“ („Am Abend“) mit wochentags 150.000, freitags rund 300.000 Exemplaren und einem Marktanteil von knapp 30 Prozent. Rechnet man die Gratiszeitung „Israel Hajom“ („Israel Today“) hinzu, die täglich rund 250.000 Exemplare verteilt und journalistisch durchaus zu den Qualitätsblättern zählt, liegt „Haaretz“ sogar nur auf Platz vier. Ihr Marktanteil liegt bei zehn Prozent.

Aber nicht Auflage oder Marktanteil machen macht „Haaretz“ zur führenden Tageszeitung Israels, sondern ihre Unbestechlichkeit und ihr Einfluss auf die nationale und internationale Politik. „Haaretz“ ist die meistzitierte israelische Zeitung im Ausland. Das liegt zum einen an ihrem investigativen Anspruch, zum anderen an der englischen Ausgabe, die täglich in Israel als zwölfseitige Beilage der „International Herald Tribune“ erscheint. Sie wird vor allem von den rund 800 in Israel stationierten Auslandskorrespondenten gelesen.

Englischsprachige Konkurrenz erwächst ihr durch die „Jerusalem Post“, allerdings nur in Maßen, weil diese weniger investigativ berichtet. Sehr erfolgreich ist auch die englische Internetausgabe von „Haaretz“ (www.haaretz.com), die allerdings kaum eigenständige Beiträge in englischer Sprache liefert, sondern lediglich Übersetzungen der Stücke aus dem Blatt und der hebräischen Internetausgabe (www.haaretz.co.il). Die englische Internetausgabe verzeichnet heute etwa eine Million Nutzer pro Monat. Sie konkurriert mit „Ynet“, der englischen Internetseite des Massenblattes „Jediot Acharonot“ (www.ynet.co.il).
Der israelische Pressemarkt ist mit über 1000 registrierten Titeln äußerst vielfältig. Die Reichweite der Wochenendzeitungen liegt bei 80 Prozent der Bevölkerung und kann sich messen lassen mit der in skandinavischen Ländern oder Deutschland. Der israelische Printmarkt wird von drei großen Verlegerfamilien dominiert: der Familie Moses („Jediot Acharonot“), der Familie Nimrodi („Maariv) und der Familie Schocken („Haaretz“).

Basisdaten

Hauptsitz:
21, Salman Schocken Street
61001 Tel Aviv, Israel
Telefon: 00972-3-512 13 13
Telefax: 00972-3-681 58 57
Internet: www.haaretz.co.il (Hebräisch), www.haaretz.com (Englisch)

Umsatz 2009: ca. 115 Mio. Euro

Geschäftsführung/Redaktion:

Haaretz Group (Verlag):

  • Amos Schocken, Herausgeber
  • Guy Rolnik, Deputy Publisher Chief, Business & Finance Editor
  • Rami Guez, CEO Haaretz Group

 

Haaretz (Zeitung):

  • Dov Alfon, Chefredakteur
  • Ido Pollack, Haaretz Online CEO
  • Sara Miller, Chefredakteurin von Haaretz.com
  • Aviva Bronstein, Direktorin der englischen Printausgabe
  • Charlotte Halle, Chefredakteurin der englischen Printausgabe

 

 

Geschichte und Profil

Gegründet wurde „Haaretz“ 1919, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, als Großbritannien, zusammen mit Frankreich, im Nahen Osten die Herrschaft der Osmanen beendet hatte und sich anschickte, im Auftrag des Völkerbundes eine „jüdische Heimstatt“ in Palästina zu schaffen, wie es der britische Außenminister Lord Balfour 1917 versprochen hatte. Die „Haaretz“-Gründer waren aus Russland eingewanderte Zionisten, die von einer Zeitung träumten, die über die politischen, kulturellen und sozialen Aspekte der Wiederbelebung des Judentums im Heiligen Land berichtete. „Haaretz“ ist die älteste israelische Zeitung seit Beginn der zionistischen Bewegung.

1935 wurde „Haaretz“ von Salman Schocken gekauft, einem gebürtigen Deutschen, der ein Jahr zuvor sein Land auf Druck der Nationalsozialisten verlassen musste. In Deutschland hatte Schocken es durch die Gründung des gleichnamigen Kaufhauskonzerns zu einigem Reichtum gebracht. Auch publizistisch war der überzeugte Zionist in Deutschland in Erscheinung getreten. 1915 gründete er die von Martin Buber geleitete Zeitschrift „Der Jude“, 1931 den „Schocken-Verlag“. Während der britischen Mandatszeit sympathisierte Schocken mit der Organisation „Brit Schalom“, die einen binationalen jüdisch-arabischen Staat in Palästina anstrebte.

Diese Philosophie der Verständigung färbte auf Schockens Sohn Gustav ab, der bald die Leitung von „Haaretz“ übernahm. Vater Salman wanderte 1940 in die USA aus, wo er 1959 starb. Gustav, der bereits mit 21, kurz nach der Machtübernahme von Adolf Hitler, zum überzeugten Zionisten wurde, legte sich den hebräischen Namen Gerschom zu und machte sich 1939 selbst zum Chefredakteur. Er führte die Zeitung ein halbes Jahrhundert lang bis zu seinem Tod 1990 und prägte damit wie kein anderer die bis heute geltende redaktionelle Linie.

„Haaretz“ bezeichnet sich als „umfassend liberale Zeitung“. Das schlägt sich im israelischen Kontext vor allem in drei Politikfeldern nieder:

Säkulares Staatsverständnis: „Haaretz“ setzt sich seit der Gründung für eine vollständige Trennung von Staat und Religion ein. Die Zeitung bekämpft die Privilegien der Ultraorthodoxen sowie deren Befreiung vom Armeedienst, tritt für die Schaffung einer Zivilehe ein und unterstützt die israelische Verfassung. Letztere wird von den Religiösen abgelehnt, weil sie einzig die Thora als für den jüdischen Staat konstitutiv ansehen.

Moderate Haltung gegenüber den Palästinensern: Schon kurz nach der Besetzung von Gaza-Streifen und Westjordanland während des Sechs-Tage-Krieges 1967 trat „Haaretz“ für eine Rückgabe der eroberten Gebiete und die Gründung eines Palästinenserstaates ein. Von dieser Haltung ließ sich die Redaktion auch durch Kriege und Krisen wie die Terror-Intifada der Jahre 2000/2001 nicht abbringen.

Liberale Wirtschaftspolitik: Schon in den 1950er und 1960er Jahren, als die Arbeitspartei das israelische Regierungssystem dominierte, kritisierte „Haaretz“ die quasi sozialistischen Verhältnisse im Wirtschafts- und Parteiensystem. „Haaretz’s“ Wirtschaftsliberalismus geht soweit, dass die Zeitung in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre die Steuer- und Arbeitsmarktreformen des Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu lobte, obwohl dessen Palästinenserpolitik den Grundsätzen der Zeitung diametral widersprach.

Ihre Respektlosigkeit demonstriert die Zeitung bereits im Foyer der Redaktionszentrale in der Salman Schocken Straße 21. Dort hängt, ganz wie in einem Schlachthaus, ein geöffneter Schweinekörper – nachgebildet aus Weingummi. Die Muskeln sind aus rotem, die Gedärme aus gelbem Fruchtgummi. Ein Schwein, im Judentum Symbol der Unreinheit, aus religiösen Gründen für den Verzehr verboten, als Aushängeschild? Auf der Suche nach einer Deutung springt der Pförtner als Kunstführer ein. Die Skulptur, sagt er, sei wie das Land Israel: „Außen schön, innen verrottet.“

„Das Land“, das bedeutet übersetzt auch der Zeitungsname „Haaretz“. Und tatsächlich sind die Probleme von Blatt und Land miteinander verknüpft: Das, was die Zeitung im Überfluss bietet – Kompromissbereitschaft gegenüber den Palästinensern – ist in den letzten Jahren immer unpopulärer geworden.

Vor allem auf Höhe der Intifada, als sich in israelischen Städten palästinensische Selbstmordattentäter in Bussen und Restaurants in die Luft sprengten, kündigten viele ihre Abonnements. Viele Redakteure hätten sich auf dem Weg zur Arbeit stellenweise nicht einmal getraut, dem Taxifahrer seinen Arbeitsort zu verraten, erzählt Chefredakteur Dov Alfon. Stattdessen habe man das benachbarte Gericht als Fahrtziel genannt.

Insbesondere einen Autoren nannten die abtrünnigen Leser immer wieder als Kündigungsgrund: Gideon Levy. Er gehört zu den radikalsten Kommentatoren des Landes. Einmal pro Woche schreibt er in seiner Kolumne „Im Zwielicht“ über Opfer der israelischen Besatzung: Taxifahrer, deren Wagen von israelischen Soldaten zerstört werden, oder einen Witwer, dessen Frau mit einem akuten Herzinfarkt so lange an einem Armee-Checkpoint aufgehalten wurde, bis sie starb. Seine Kommentare kennen eigentlich nur ein Thema: die Besatzung. „Wenn es nach mir ginge, würde die ganze Zeitung nur gegen die Besatzung schreiben“, sagt Levy. Aber dann, gibt er zu, würde sich die Zeitung nicht verkaufen.

Sein Vater Gerschom habe sich noch mehr für die redaktionellen Aspekte als für die Bilanzen interessieren können, schwärmt Amos Schocken, der den Verlag seit 1990 führt. Die Zeiten haben sich geändert. „Die Zeitung muss Geld verdienen“, sagt der Gründer-Enkel. Das ist nicht einfach in einem Land, das gerade einmal sieben Millionen Einwohner hat. Verglichen mit dem Massenblättern „Jediot“ und „Maariv“ leistet sich „Haaretz“ noch immer eine sehr große Redaktion. Rund 150 Redakteure arbeiten in Tel Aviv, hinzu kommen Korrespondenten in allen wichtigen israelischen Städten sowie in den wichtigsten internationalen Hauptstädten.

Wegen der finanziellen Schwierigkeiten, in die „Haaretz“ nach der zweiten Palästinenser-Intifada geriet, begann Gründer-Enkel Amos Schocken nach einem geeigneten Investor zu suchen. Die zum publizistischen Profil von „Haaretz“ passende „New York Times“ winkte wegen eigener finanzieller Schwierigkeiten ab. Auch der deutsche Springer-Konzern wurde vergeblich umworben. Der ehemalige israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor, dessen Sohn Adar leitender Redakteur bei „Haaretz“ ist, bahnte daraufhin Kontakte zum Kölner Verleger Alfred Neven DuMont an, dessen Verlag DuMont Schauburg im Jahr 2006 für rund 25 Millionen Euro ein Viertel der Anteil der „Haaretz“-Gruppe kaufte.

Dass ausgerechnet ein Deutscher, dessen Vater den Aufstieg der Nationalsozialisten begrüßt hatte, bei der israelischen Traditionszeitung einstieg, sorgte nur für eine kurze Debatte in den israelischen Medien, zumal sich der Verdacht, Kurt Neven DuMont habe in den 30er Jahren von der „Arisierung“ jüdischen Besitzes profitiert, nicht erhärtete.

„Haaretz“-Verleger Amos Schocken übergab dem Kölner Investor ein Papier mit sechs redaktionellen Grundsätzen, denen sich die Zeitung verpflichtet fühle:

1. „Haaretz“ ist eine zionistische Zeitung, die die Existenz und Stärkung Israels als einen jüdischen und demokratischen Staat unterstützt.
2. „Haaretz“ wird Bemühungen fördern und unterstützen, die Israel so fortschrittlich machen wie die fortschrittlichsten Nationen in den Bereichen Bildung, Wissenschaft und Kultur.
3. „Haaretz“ wird danach streben, Israel im Bezug auf Bürger- und Menschenrechte so fortschrittlich wie möglich zu machen.
4. „Haaretz“ wird sich jeder Form des Zwangs widersetzen, einschließlich religiöser Zwänge.
5. „Haaretz“ wird sich für das Recht auf individuelle Entfaltung einsetzen, einschließlich wirtschaftlicher Aktivitäten innerhalb des marktwirtschaftlichen Rahmens.
6. „Haaretz“ wird Anstrengungen unterstützen, einen Frieden mit Israels mit den arabischen Nachbarn zu erreichen.

Alfred Neven DuMont, so erzählt es Verlagsinhaber Amos Schocken, habe das Papier mit den sechs Grundsätzen genommen und auf den letzten Punkt, Frieden mit den Arabern, gezeigt. Das, so Neven DuMont, sei der wichtigste Punkt.

Verlagsüberblick, Management und Geschäftsfelder

Neben der Tageszeitung gehören folgende Titel und Beteiligungen zur „Haaretz“-Gruppe:

  • die Finanzbeilage „The Marker“ sowie „The Marker Online“, ein Internet-Finanzportal in hebräischer und englischer Sprache
  • der Buchverlag „Hotza'at Schocken“
  • „Reschet Schocken“, Herausgeber von 15 israelischen lokalen Wochenzeitungen wie „Ha'ir“ in Tel Aviv oder „Kol Ha'ir“ in Jerusalem mit einer Gesamtauflage von ca. 550.000 Exemplaren
  • eine 33-prozentige Beteiligung an „Walla!“, dem nach Google führenden hebräischen Internetportal mit Suchmaschine und anderen Servicefunktionen.
  • das Kindermagazin „Einajim“ (Augen)

Aktuelle Entwicklungen und Ausblick

Die Palästinenser-freundliche Haltung wird für „Haaretz“ zunehmend zu einem Problem. Kompromisse mit den Palästinensern sind längst nicht mehr so populär wie noch Mitte der 90er Jahre auf der Höhe des Osloer Friedensprozesses. Das Scheitern der Camp-David-Verhandlungen 2000 und die folgende zweite Intifada haben dem israelischen Friedenslager nachhaltig geschadet.
Von diesem Ruck in die gesellschaftliche Mitte blieb auch das linke Vorzeigeblatt nicht verschont. Mit dem Schrumpfen des Friedenslagers ist auch bei „Haaretz“ ein gewisser Trend in Richtung des politischen Mainstream zu beobachten. Bedenken des Sicherheitsapparats wird mehr publizistischer Platz eingeräumt und selbst die radikale Siedlerbewegung wird mitunter verteidigt. Im Gaza-Krieg Anfang 2009 rechtfertigten Leitartikel die israelische Militäroperation als „gegossenes Blei“.

Noch immer aber findet sich in keiner anderen israelischen Zeitung ein derart großes Spektrum politischer Meinungen. Autoren der israelischen Rechten kommentieren, oft in derselben Ausgabe, Seite an Seite mit profilierten linken Redakteuren. Im rechten politischen Lager ist zum Beispiel der ehemalige israelische Verteidigungsminister Mosche Arens zu nennen, der regelmäßig gegen die Idee der Gründung eines Palästinenserstaates anschreibt oder Nadav Shragai, der oft die israelische Siedlerbewegung in Schutz nimmt.

International bekannter aber sind die linken Autoren von „Haaretz“. Neben Gideon Levy sind dies vor allem die Reporter Akiva Eldar und Amira Hass. Ihnen ist es zu verdanken, dass in einem israelischen Medium überhaupt noch regelmäßig ausführlich über das Schicksal der Palästinenser berichtet wird. Obwohl Reisen in den Gaza-Streifen israelischen Bürgern seit dem Rückzug der Armee 2005 verboten sind, gelingt es Hass immer wieder, über Umwege in den Küstenstreifen zu gelangen, auch wenn sie anschließend bei der Einreise nach Israel von der Polizei verhaftet wird und ihr Prozesse angedroht werden. Hass lebte Jahre lang in in der palästinensischen Hauptstadt Ramallah und schrieb zahlreiche Bücher, am bekanntesten ist: „Gaza. Tage und Nächte in einem besetzten Land.“

Bekannt ist auch der „Haaretz“-Autor Tom Segev, der in seinen historischen Büchern immer wieder mit israelischen Tabus bricht, indem er zum Beispiel den schändlichen Umgang der frühen Israeli mit den Holocaust-Überlebenden beschreibt („Die siebte Million“).

Chefredakteur ist Dov Alfon. Er begann seine journalistische Karrriere bei „Haaretz“, war unter anderem Korrespondent in Paris und hatte sich als Leiter der Kulturbeilage „Gallery“ einen Namen gemacht. Nach einem vierjährigen Intermezzo beim israelischen Verlagshaus Kinneret Zmura-Beitan Dvir, kehrte er im Frühjahr 2008 als Chefredakteur zu „Haaretz“ zurück.

Alfon leitete einige personelle und publizistische Veränderungen ein, er erwägt unter anderem eine Umstellung vom klassischen Groß- auf das Tabloid-Format, in dem bereits die Finanzbeilage „The Marker“ und das Wochenendmagazin erscheinen. An der inhaltlichen Ausrichtung aber soll sich nichts ändern, die Politik steht nach wie vor an erster Stelle. „Wir können die DNA der Zeitung nicht verändern", sagt der Kolumnist Gideon Levy, „sonst überleben wir nicht.“

Referenzen/Literatur