Gerhard Vowe: Durch das Netz für das Netz. 12 Thesen zur Medienpolitik in der Online-Welt

09.09.2011

1. Wir befinden uns im Ãœbergang hin zu einer von Online-Medien dominierten Medienwelt.

Unsere Vorstellungen von Medien und Politik sind geprägt von der analogen Welt der elektronischen Massenkommunikation. Ausdruck dieser Vorstellungen sind die immer und immer wieder erzählten Geschichten über starke Wirkungen des Rundfunks
- von „War of the Worlds“ bis „Wetten, dass ..?“. Eine der Folgen dieser Vorstellungen ist ein engmaschiges Netz der Regulierung. Seit einigen Jahren müssen wir umdenken. Unsere kognitiven Muster verlieren ihre Orientierungsfunktion; mit unseren Unterscheidungen und Heuristiken können wir nicht mehr angemessen erfassen, wie sich die Medienwelt verändert. Denn wir erleben einen rasanten Ãœbergang in eine digitale Welt, in einen von Online-Medien dominierten Kommunikationsraum.  Indikatoren sind die Veränderungen bei den Nutzungszeiten und Reichweiten, die Strategien von Medienanbietern, die Erwartungen, die sich im Marktwert von Unternehmen ausdrücken, und nicht zuletzt die allenthalben spürbare Verunsicherung über das Profil zukünftiger Medienpolitik, wie sie sich auch in den bisherigen Debattenbeiträgen dieser FK-Reihe niederschlägt.

2. Online-Medien sind Hybridmedien: Kennzeichen der Online-Welt ist ein neues Gefüge sozialer Kommunikation, in dem Individual-,Gruppen- und Massenkommunikation neu verknüpft werden.

Das Internet erweitert nicht bloß unser Medienrepertoire um zusätzliche Kanäle, sondern bildet eine vollkommen neue Infrastruktur für jegliche Form gesellschaftlicher Kommunikation. Es ermöglicht Online-Medien, also Medien, die technisch auf vernetzten Computern basieren. Online-Medien wie Videoplattformen (YouTube), Microblogging (Twitter), Suchmaschinen (Google), kollaborative Enzyklopädien (Wikipedia), Einkaufsportale (Ebay), Tauschbörsen (The Pirate Bay) und soziale Netzwerke (Facebook) sind „Hybridmedien“ (Joachim Höflich), die der sozialen Kommunikation ein neues Gefüge geben. In ihnen werden unterschiedliche Kommunikationsfunktionen verknüpft: Innerhalb eines Medienrahmens kann informiert und interagiert werden, und es können ohne Medienbruch Transaktionen wie Voten, Spenden oder Käufe angeschlossen werden.

Und vor allem kombinieren Online-Medien unterschiedliche Kommunikationsformen und verändern deren Bezüge: Individual- (one to one), Gruppen- (few to few) und Massenkommunikation (one to many) waren vordem scharf getrennt – technisch, praktisch, wissenschaftlich, wirtschaftlich, rechtlich, politisch. Die ursprüngliche Domäne der Online-Medien ist die Gruppenkommunikation. Mit Online-Medien wird die Medienlücke zwischen Telefon und Fernseher geschlossen und die Gruppenkommunikation in ihren vielfältigen Formen einer Medienlogik unterworfen.
Darüber hinaus werden auch die Massenkommunikation und die Individualkommunikation umgestaltet. Online-Medien ermöglichen andere Bezüge zwischen den Kommunikationsformen, und zwar in sozialer Hinsicht (Kommunikationsteilnehmer kombinieren unterschiedliche Rollen in den verschiedenen Formen), in zeitlicher Hinsicht (zwischen den Formen kann rasch gewechselt werden) und in sachlicher Hinsicht (Kommunikationsinhalte in den verschiedenen Formen beeinflussen einander). Dies macht herkömmliche Grenzziehungen obsolet und wirft neue Differenzen auf, die quer zu den vertrauten Einteilungen der überkommenen Sphärenmodelle stehen. Das ist ein epochaler Schritt: Es verändern sich die Strukturen des Öffentlichen.

3. Für diesen Übergang gibt es kein Navigationssystem.

Den Ãœbergang in die Online-Welt kann man nicht als eine Treppe beschreiben, auf der Stufe für Stufe erklommen wird und wo man den weiteren Fortgang stets vor Augen hat. Ein angemessenes Bild ist vielmehr ein verästeltes Wegenetz, das in völlig unbekanntes Terrain führt. Manche Wege erweisen sich als Sackgasse, manche stoßen über einen Umweg wieder auf andere, manche führen zurück. Es gibt keine Luftaufnahmen von diesem Gebiet auf Google Earth, und Navigationsgeräte versagen hier. An jeder Gabelung muss man aus dem Bauch heraus entscheiden, ob links oder rechts, ob abwarten oder beschleunigen. Es ist im Vorhinein nicht erkennbar, wer hier weiter kommt als andere. Man denke dabei nicht nur an die Tops, man denke auch an die Flops wie Second Life oder AOL, an MySpace oder StudiVZ, an BTX oder DAB. 

Treiber des Medienwandels sind die technischen Potenziale der Digitalisierung. Die Richtung ergibt sich durch die Menschen. Wie sie sich die Potenziale in ihrer Kommunikation aneignen, ist nicht voraussagbar, nur in Grenzen ökonomisch verwertbar und schon gar nicht politisch steuerbar.

4. Mediatisierung bedeutet: Anpassung der Kommunikation an die Medienlogik.

Die rasante Verbreitung des Internets akzeleriert und akzentuiert die Mediatisierung unserer Kommunikation. Dies gilt grundsätzlich für alle Kommunikationsformen und für alle Lebensbereiche – ob Wirtschaft oder Wissenschaft, Erziehung oder Partnerwahl, Politik oder Bildung. Ein gehöriger Teil ihrer Veränderung ist nachweislich darauf zurückzuführen, dass die Medien im Vergleich zu früher und zu anderen Einflussfaktoren an Bedeutung gewonnen haben und weiter gewinnen.

Mediatisierung ist kein neues Phänomen. Massenmedien prägen seit langem und nachdrücklich unsere Kommunikation. Wir müssen unsere Kommunikation der massenmedialen Logik anpassen, wenn wir uns über Massenmedien verständlich machen und deren Vorteile nutzen wollen. So muss die Pressemitteilung eines Verbandes die Nachrichtenfaktoren beachten, von denen Zeitungsjournalisten bei ihrer Auswahl von Nachrichten ausgehen. Und ein Politiker muss die Aufmerksamkeitskriterien des Fernsehpublikums respektieren, wenn er sichtbar bleiben will. Und wenn jemand seine Twitter-Gefolgschaft füttern will, muss er die 140-Zeichen-Begrenzung intelligent ausnutzen.

Mit den Online-Medien haben sich neue Elemente in dieser Medienlogik nach vorne geschoben. Wer in dieser Welt überleben will, muss ein höheres Tempo anschlagen, muss sich ausrichten auf schärfer zugeschnittene Zielgruppen mit hohen Erwartungen an deren Beteiligung, muss seine Botschaft multimedial und hypertextuell aufbereiten. Je mehr die Online-Medien die Medienwelt insgesamt prägen, desto stärker wird auch die Medienlogik von ihnen bestimmt und desto stärker graben sich die neuen Verknüpfungen der Kommunikationsformen ein in die soziale Kommunikation. Wenn das kein struktureller Wandel ist, was sonst?

5. Mediatisierung ist wie Individualisierung, Rationalisierung oder Globalisierung eine Facette des sozialen Wandels.

Dies ist Teil des sozialen Wandels. Mediatisierung ist nicht zu denken ohne Individualisierung und umgekehrt. Individualisierung bedeutet: Bindungen verlieren an Kraft und werden nur unter Vorbehalt und auf Zeit eingegangen, Entscheidungsspielräume werden erweitert, Verantwortung für die getroffenen Entscheidungen muss individuell übernommen werden. Die Verbindung von Individualisierung und Mediatisierung hat zentrifugale Tendenzen für die Öffentlichkeit zur Folge. Es bildet sich eine Unzahl von kommunikativen Nischen mit ihren jeweils eigenen medialen Knoten.  Dafür braucht man nicht ins Web zu schauen, dafür reicht ein Blick über die Zeitschriftenauslage eines Bahnhofskiosks. Insgesamt haben Medien stark an Bedeutung für Kommunikation gewonnen, jedes einzelne Angebot aber hat an Bedeutung verloren.

Mediatisierung ist auch nicht denkbar ohne Rationalisierung im Sinne einer Verwissenschaftlichung: Einforderung von Begründungen, Auflösung des Selbstverständlichen durch Hinterfragen, Streben danach, auch noch den letzten Winkel des Lebens verfügbar zu machen und effizient zu gestalten. Der jetzige Sprung in der Entwicklung geht einher mit einer weiteren Verwissenschaftlichung von Kommunikation. Die Online-Welt bietet leistungsfähige Verfahren und Instrumente, um Kommunikation zu modellieren, zu beobachten und zu kontrollieren. Die Verwissenschaftlichung wird auch die weiteren Entwicklungssprünge prägen. Kennzeichen eines Web 3.0 wird der flächendeckende Einsatz intelligenter Systeme sein, die komplexes Wissen personalisiert aufbereiten. Dies eröffnet Anbietern strategische Vorteile für die Medienproduktion und die Beobachtung der Mediennutzung. Doch es bietet auch ungeahnte Möglichkeiten für die Beobachtung der Nutzer untereinander und für die Beobachtung durch die Wissenschaft.

Und so ist es auch mit Globalisierung und Flexibilisierung. All diese Facetten des sozialen Wandels treiben einander voran. Mit vielen Phänomenen dieses sozialen Wandels einschließlich der Mediatisierung tun wir uns schwer und staunen darüber, wie souverän nachwachsende Kohorten sich in diesem veränderten Koordinatensystem gesellschaftlicher Orientierung zurechtfinden.

6. Verlierer des Übergangs sind die traditionellen Medien – sie müssen schrumpfen, sich anpassen und viel riskieren.

Gewinner des Medienwandels sind international agierende Organisationen, die aus dem Nichts kommen und völlig neue Marktsegmente erschließen. Sie haben sich um einzelne Personen herum gebildet, die sich ganz einer Idee verschrieben haben und um die sich Mythen bilden – von Assange bis Zuckerberg.

Verlierer sind die klassischen Medien – von „Bild“ bis zum ZDF. Sie sehen im Lichte der neuen Medien alt aus, weil es mittlerweile kein Kriterium mehr gibt, bei dem die Online-Medien ihren jeweiligen funktionalen Äquivalenten in der traditionellen Medienwelt noch unterlegen wären – ob das nun die Interaktivität oder die zeitlich und räumlich flexible Nutzung oder die Informativität oder die Aktualität oder was auch immer ist. Beruhigend ist zwar, dass auch hochbetagte Medien nicht verschwinden und damit auch nicht deren Anbieter. Selbst die Steintafel als Medium der Herrschaftskommunikation bereichert als Grabstein und als Gedenktafel weiterhin mit ihren Grautönen die Medienpalette. Aber die neu hinzutretenden Medien setzen die alteingesessenen Medien enorm unter Druck. Die müssen ihre Funktionen verändern und sich mit nachrangigen Positionen abfinden, zum Teil in Nischen abwandern. Die Zeitung als der Ort für alle, die etwas finden wollen, was sie nicht gesucht haben, und zwar genau dort, wo sie auch gestern etwas gefunden haben, diese Zeitung wird sich ändern und sie wird ökonomisch und publizistisch schrumpfen.  Ähnliches erwartet den Hörfunk und das Programmfernsehen (so auch Hachmeister/ Vesting in FK 13/11, S. 7).

Die Medienorganisationen, die bislang als Anbieter aufgetreten sind, werden zumindest einen Teil ihrer Haut retten, und zwar in dem Maße, wie sie in der Lage sind, sich in der neuen Welt zu orientieren, sich also umzuorientieren. Traditionelle Medienanbieter müssen darum kämpfen, in der Online-Welt präsent zu sein. Bei manchen ist der Kampf nicht vergeblich, wie man daran sehen kann, dass die führenden deutschen journalistischen Anbieter im Netz alle Ableger von eingeführten Printtiteln sind, wie „Spiegel Online“ oder bild.de. Bei manchen, und zwar den öffentlich-rechtlichen Anbietern, ist es politisch sehr umstritten, ob und wie sie um ihre Präsenz im Netz kämpfen dürfen (vgl. dazu Hachmeister/Vesting in FK 13/11, S. 10, und Ladeur in FK 29/11, S. 3 sowie S. 8). Und bei manchen ist der Kampf vergeblich, sie verschwinden wie eine Vielzahl amerikanischer Zeitungsverlage oder wie das Bürgerfernsehen. Bei der Umorientierung besteht also ein großer Handlungsspielraum. Das birgt Risiken und Chancen.

Da die Entwicklung nicht absehbar ist, muss viel Lehrgeld bezahlt werden. Die Investitionen sind riskant. Auch deshalb muss es möglich sein, dass sich leistungsfähige Einheiten bilden können – die Konzentrationskontrolle muss die veränderte Wettbewerbslage in Rechnung stellen.

7. Online-Medien verändern die Bildung öffentlicher Meinung, und zwar vor allem durch die Mediatisierung der Gruppenkommunikation.

In der Online-Welt verändert sich die Bildung öffentlicher Meinung, und zwar in all ihren Facetten. Es verändern sich das Was und Warum der öffentlichen Meinung – die Themen und die Positionen und die Begründungen, zum Beispiel die Kriterien, mit denen Politiker bewertet werden: Sie müssen kontinuierlich kommunikativ präsent sein, sie müssen persönlich sichtbar sein, sie müssen ständig auf der Hut sein, da alles, was sie sagen, sofort überprüft werden kann und auf immer dokumentiert ist. Es verändern sich das Wann und Wie der öffentlichen Meinung, die Strukturen und Rhythmen der Meinungsbildungsprozesse. Öffentliche Meinung ist volatiler geworden.

Und es verändert sich das Wer gegen Wen: Der Chor öffentlich vernehmbarer Stimmen ist vielstimmiger geworden; streckenweise geht das an die Schmerzgrenze (so Ladeur in FK 29/11, S. 5). Marginale Gruppen nutzen das Sprungbrett der Online-Medien, um in die traditionellen Medien zu kommen. Es ergeben sich andere Konfigurationen – zum Beispiel zwischen etablierten und nicht etablierten Organisationen und zwischen Organisationen und schwach organisierten Gruppen. Beispiel YouTube: Das ist sicher kein publizistisch profiliertes Organ, aber ein Ort auch der politischen Auseinandersetzung. Vor allem ist mit dem Aufstieg von YouTube und anderen Foren verbunden, dass sich die politische Kommunikation innerhalb von Gruppen mediatisiert. Hier kann kommentiert und diskreditiert, empfohlen und abgeraten, geätzt und geholzt werden – ganz wie am realen Stammtisch, nur jung, anonym und für andere nachlesbar.

Die Mediatisierung der Gruppenkommunikation bietet ungeahnte Möglichkeiten sowohl für Bottom-up- als auch für Top-down-Kommunikation, also sowohl für die Organisation und Artikulation zerstreuter Gruppen als auch für die Beobachtung und Beeinflussung scharf abgegrenzter Zielgruppen.

8. Die Online-Mediatisierung macht in sechs Dimensionen öffentlicher Kommunikation traditionelle Grenzziehungen obsolet und neue erforderlich:

1) publizistisch irrelevant / publizistisch relevant
2) geheim / bekannt
3) privat / offen
4) proprietär / kommunal
5) profitabel / gemeinschaftlich finanziert
6) riskant / sicher.

Der Übergang in die Online-Welt bringt eine Fülle von Problemen mit sich.
Heiß wird es dabei an sechs Stellen. Diese Hot Spots markieren die Grenzziehungen,
die der sozialen Kommunikation ihre Struktur geben. Es geht dabei nicht um
territoriale Grenzen, sondern um mentale Konstrukte, um Differenzen, die gesetzt
werden und die dann die technischen, praktischen, ökonomischen, rechtlichen und
politischen Abgrenzungen bestimmen. Die Grenzen markieren die Tiefenstruktur
unserer individuellen und kollektiven Sicht von Kommunikation.

Durch die Online-Mediatisierung verschieben sich die Grenzen. Sie sind nicht mehr selbstverständlich, sondern werden in Frage gestellt, und das hat Auswirkungen auf die Stabilität unseres kommunikativen Erlebens und Handelns.  Jede dieser sechs Differenzen setzt an einer anderen Dimension von Öffentlichkeit an:

1) Die erste Differenz setzt an der publizistischen Dimension von öffentlich an und trennt publizistisch irrelevant von publizistisch relevant. Was ist für die Bildung öffentlicher Meinung in öffentlichen Angelegenheiten von Belang, was nicht? Durch Online-Medien verschiebt sich die Grenze, vor allem dadurch, dass die Gruppenkommunikation an Bedeutung gewinnt und dass Professionalität neu definiert wird.

2) Die zweite Differenz setzt an der staatspolitischen Dimension von öffentlich an und trennt zwischen geheim und bekannt – auch das seit jeher eine hart umkämpfte Grenzziehung. Nun ist das Stichwort nicht mehr Watergate oder Pentagon-Papiere, sondern Wikileaks. Was hat geheim zu bleiben, was muss offengelegt werden? Online-Medien bieten unerhörte Möglichkeiten, sich geheimer Informationen zu bemächtigen und sie irreversibel zu verbreiten.  Auch hier: Durch Online-Medien verschieben sich die Grenzen, und das bringt Instabilitäten mit sich.

3) Die dritte Differenz setzt an der Privacy-Dimension von öffentlich an und trennt privat von allseits offen. Gegenwärtig wird diese Grenzlinie neu ausgehandelt.  Die Geschäftsmodelle der großen Online-Unternehmen sehen eine Nutzung privater Daten vor, die mit unseren Erwartungen nur schwer zu vereinbaren ist (vgl. dazu Schneider in FK 33/11, S. 8).

4) Die vierte Differenz setzt an der urheberrechtlichen Dimension von öffentlich an und trennt proprietär, also eigentumsrechtlich geschützt, von „kommunal“ im Sinne von allgemein verfügbar. Stichwort: Copyright vs. Creative Commons.  Welche Verfügungsrechte kann wer in der Kommunikationskette geltend machen? Hier stehen sich eine Remix Culture und eine Old School gegenüber. Die Internet-Gemeinde ist stark libertär ausgerichtet und entwickelt beträchtliche Energie, um Einschränkungen gerade der Freiheit im Netz zu unterlaufen oder mit den Mitteln des Netzes zu verhindern.

5) Die fünfte Differenz setzt an der ökonomischen Dimension von öffentlich an und trennt profitabel und gemeinschaftlich finanziert. Was soll aus öffentlichen Quellen finanziert werden? Das Stichwort dazu lautet Netzneutralität (um die gegenwärtig ein heftiger Streit entbrannt ist).

6) Die sechste Differenz setzt an der Ordnungsdimension von öffentlich an und trennt zwischen sicher und riskant im Hinblick auf den öffentlichen Raum.  Stichwort: Cyber War als Bedrohung für Frieden und Stabilität. Online-Medien bringen Medien und Kommunikation in eine Schlüsselstellung im Hinblick auf die öffentliche Ordnung. Denn das Netz ermöglicht eine explosive Verbindung aus Propaganda (Einsatz von Medien für Kriegskommunikation) und Angriffen auf die zivile Infrastruktur des Gegners statt auf militärische Ziele. Ãœber das Netz können Konfliktparteien ohne Medienbruch die eigenen Anhänger mobilisieren, die Öffentlichkeit wachrütteln, den Gegner desinformieren und die Informations- und Kommunikationsstrukturen des Gegners empfindlich stören. Das Netz birgt also neue Gefahren nicht nur für Geist und Herz, sondern auch für Leib und Leben und wird damit zum Quell von Verunsicherung. Medien in einem weiten Sinne sind Mittel und Ziel von Angriffen – Angriffe auf Kommunikationsnetze von Unternehmen und von staatlichen Organisationen. Sie bilden den kritischen Teil der Infrastruktur und damit die Achillesferse der Informationsgesellschaft – ein attraktives Objekt von politischem Protest, Terrorismus und kriegerischem Angriff.  Welche Risiken der Online-Mediatisierung politisch motivierter Gewalt sind akzeptabel?

9. Media-Policy: Bei diesen Grenzziehungen ist Online-Medienpolitik besonders gefordert; anderes wird zweitrangig.

Im Ãœbergang zur Online-Welt ordnet sich die medienpolitische Agenda neu. Die Rangfolge der Probleme wird neu ermittelt. Eine Dreiteilung ist erkennbar. 

1) An den Kopf der medienpolitischen Agenda haben sich die genannten Probleme der Grenzziehung geschoben. An diesen sechs Differenzen ist Medienpolitik gefordert, um die konträren Interessen auszubalancieren und der gesellschaftlichen Kommunikation einen verbindlichen Rahmen zu setzen.

2) Dahinter rangieren weitere Probleme, die zumindest zeitweise das Potenzial haben, sich in den Fokus der medienpolitischen Aufmerksamkeit zu schieben. Ein Beispiel ist der Jugendschutz: Wir erleben gegenwärtig ein gigantisches Feldexperiment.
Das Netz ist geschaffen worden, damit Kommunikation alle Hindernisse
umgehen und unterlaufen kann, auch die Sperren des Jugendschutzes (vgl. Hachmeister/ Vesting in FK 13/11, S. 4, und Mai in FK 34/11, S. 8). Um mit dem radikal vereinfachten Zugang zu Pornografie und Gewaltdarstellungen zurechtzukommen, müssen die nachwachsenden Kohorten ihre eigenen Bewältigungsmechanismen aufbauen. Wir werden sehen, wie sich dies in Weltbildern, Einstellungen und Verhaltensweisen auswirkt. Es gibt darüber aber (noch) keine gesellschaftliche Auseinandersetzung. Vielmehr sieht man dem gefasst ins Auge. Folglich ist der Handlungsdruck auf die Medienpolitik nicht sonderlich stark. Auch andere Themen - wie beispielsweise die Digitalisierung der klassischen Übertragungskanäle, die Verteilung der digitalen Dividende, der globale Digital Divide oder die Durchsetzung weltweiter Zugangs- und Nutzungsrechte – sind hierzulande keine Brennpunkte gesellschaftlicher Auseinandersetzungen.

3) Unterhalb dieser akut oder latent umstrittenen Themen werden viele onlinespezifische Koordinationsprobleme lautlos und routiniert gelöst wie zum Beispiel die Verteilung der Namen im www, die Weiterentwicklung der Kommunikationsstandards oder der weitere Ausbau der technischen Infrastruktur.

Bei allen Problemen sind verbindliche Regelungen gefordert – vor allem zur Verteilung von knappen Ressourcen, wie etwa von Rechten oder Finanzmitteln. Kollektive Bindungskraft können diese Entscheidungen, wer was darf und wer was bekommt, nur entfalten, wenn ein akzeptabler Mechanismus der Verteilung knapper Ressourcen etabliert werden kann.

10. Media-Politics: Online-Medienpolitik ist vor allem die Organisation
deliberativer Verfahren in einem Netz heterogener Akteure

Die Grenzziehungen sind deshalb weit oben auf der Agenda, weil dabei Konflikte manifest werden: Der Staat schlägt zu („Zähmung des Netzes“) und die Netzgemeinschaft zurück („Zensursula“) – laut Karl-Heinz Ladeur in geradezu hysterischer Form (vgl. FK 29/11, S. 6). Dennoch: Insgesamt vollzieht sich die Umwälzung unserer Kommunikation in bemerkenswert zivilisierten Bahnen. Die Konflikte bleiben im Rahmen; es ist nicht so, dass die information poor zum Sturm auf die Datenspeicher blasen. Verglichen mit den Kämpfen, die andere Umwälzungen hervorgerufen haben, verläuft dieser Schub der Mediatisierung ausgesprochen milde. Die liberal-demokratischen Systeme beweisen eine enorme Flexibilität in der Zivilisierung der Konflikte rund um die Online-Medien. In autoritären Systemen drückt sich der Wandel stärker in Zäsuren aus. Es zeigen sich somit unterschiedliche Grade von Lernfähigkeit. 

Wie können akzeptable und robuste Grenzen gezogen und überzeugend begründet werden? Das kann nur in komplexen Verfahren ausgelotet und festgelegt werden.  Hoheitliche Setzungen werden weiter an Bedeutung verlieren. Es muss im Netz eine Lösung gefunden werden, unter Beteiligung der Bürger, nicht nur der „Netizens“, und das deliberativ, also abwägend (bei Hachmeister/Vesting: „Netzwerk von Perspektiven“) und mit einer höheren Toleranz für Veränderlichkeit (bei Hachmeister/
Vesting: „fluidere Netzpolitik).

Im Internet kann sich Media-Governance als eine spezifische Form medienpolitischer Regulierung entfalten: Von Beginn an haben sich für die verbindlichen Entscheidungen im Netz neue Verfahren der Artikulation und der Aushandlung ergeben: Kommunikationsräume im Netz werden geschaffen und genutzt für Information und Kommunikation, für diskursive Aushandlung, aber auch für strategische und taktische Intervention, um gegnerischen Aktivitäten entgegentreten zu können. Das Netz wird genutzt, um die mit dem Netz einhergehenden Probleme zu lösen. Von daher ist Netzpolitik – in Anlehnung an die berühmte Definition von Demokratie durch Abraham Lincoln in der „Gettysburg Adress“ – Regelung des Netzes durch das Netz für das Netz.

11. Media-Polity: Der Ordnungsrahmen für die Online-Medienpolitik ist noch nicht institutionalisiert.

Online-Medienpolitik muss sich in einem institutionellen Rahmen bewegen, sie braucht ein belastbares Fundament der Legitimation. Es geht dabei um die grundlegende Frage der Abwägung von Grundwerten, wenn durch Eingriffe zwar Grundrechte geschützt, aber zugleich Freiheitsspielräume eingeschränkt werden.  Hier werden die Auseinandersetzungen grundsätzlich. Da alle genannten Probleme sich nicht an territoriale politische Grenzen halten, müssen transnationale Regelungen gefunden werden. Dabei stoßen unterschiedliche Regulierungskulturen aufeinander. Noch hat sich dabei bislang keine tragfähige gemeinsame Basis entwickelt. Hinzu tritt der Kampf um Kompetenzen. Es ist eine neue Verteilung zwischen allen Ebenen, einschließlich globaler Instanzen. Das Kräfteparallelogramm wird neu justiert. Die festgefügte Welt der Rundfunk-Medienpolitik ist zersprungen, eine neue noch nicht gefunden.

12. Auch Regulierungsinstanzen müssen sich in der Online-Welt grundlegend neu positionieren – in sozialer, räumlicher, sachlicher und prozessualer Hinsicht.

Wo ist in diesem Szenario der Platz für die Regulierungsinstanzen, die sich in der Rundfunkwelt herausgebildet und die Medienpolitik dominiert haben? Das ist die Eine-Million-Euro-Frage, aber weder gibt es Antwortvorgaben noch kann man jemanden anrufen. Norbert Schneider gibt darauf eine 50-Millionen-Euro-Antwort (siehe FK 33/11, S. 9). An dieser Stelle können nur einige Eckpunkte genannt werden, die bei der Suche nach Antworten zu beachten sind.

Der Bedeutungsverlust der traditionellen Medien senkt den Bedarf an Regulierung.  Auch Regulierungsinstanzen müssen sich auf schrumpfende Nachfrage nach Regulierungsleistungen einstellen, auch sie müssen einen Funktions- und Strukturwandel vollziehen. Sie stehen auf dem Prüfstand. Die erheblichen Kosten für die Regulierung – allein 140 Millionen Euro aus dem Rundfunkgebührentopf alljährlich für die Landesmedienanstalten – wollen legitimiert sein, schließlich gibt es immer auch andere sinnvolle Verwendungsmöglichkeiten, zum Beispiel für werbefreie Suchmaschinen mit transparenten Algorithmen. Betrachtet man die Online-Regulierung unter einem sozialen Aspekt, so fragt sich: Wer reguliert?  Das Netz an Regulierungsinstanzen ist dicht gestrickt – mit allen denkbaren Abstufungen von Instanzen für hoheitliche Aufgaben bis hin zu Organisationen, die Selbstregulierung koordinieren. Allein die Aufzählung aller Organisationen, die im Medienbereich irgendetwas zu sagen haben, stößt schon an die Umfangsbegrenzung für eine Bachelor-Arbeit, und man käme mit dem Platz nur dann aus, wenn man sich auf die „Abkürzungskaskade“ (Hachmeister/Vesting“) beschränkte: LfM, TLM, FSF, USK, KEK und so weiter und so weiter. Dies ist in der Online-Welt nicht einfacher geworden. So wie es bei den Anbietern von Mediendienstleistungen neue Typen von Akteuren gibt, die sich in alte Kartelle nicht mehr ohne weiteres einbinden lassen, so gibt es auch auf der Regulierungsebene neue Instanzen, die Regulierungskompetenz für sich beanspruchen, und damit neue Konkurrenzen. Jede einzelne Regulierungsinstanz muss sich in dieser polyzentrischen Landschaft neu orientieren, das heißt: sich gegenüber den anderen profilieren.

Betrachtet man Online-Regulierung unter dem räumlichen Aspekt, so fragt sich: Wo wird reguliert? Ein zentrales Merkmal der Regulierung des Rundfunks in Deutschland ist die föderale Struktur, also eine räumlich definierte Kompetenzverteilung innerhalb des Nationalstaats – überwölbt durch Instanzen, die übergreifende Aufgaben wahrnehmen. Das ist profilbildend – aber ist das überzeugend? Von der Sache her ist das jedenfalls nicht begründbar. Hilfsweise wäre zu argumentieren, dass die Konkurrenz der Länder das Geschäft belebe. Oder dass es politisch wichtig sei, die Last auf viele Schultern zu verteilen und damit unterschiedliche Träger einzubinden. Ein klares Plädoyer für eine Bundeslösung hat Norbert Schneider formuliert (vgl. FK 33/11, S. 8). Welche Beharrungskraft der Föderalismus auch entfalten mag, künftig werden sich Regulierungsinstanzen in einem transnationalen Regulierungsnetz positionieren müssen – und wenn es um Online-Wetten geht.

Betrachtet man Online-Regulierung unter einem sachlichen Aspekt, so fragt sich: Was ist vordringlich zu regeln? Die Begründungen für die straffe Regulierung des Rundfunkbereichs lassen sich nicht auf das Netz übertragen: Frequenzknappheit, hohe Barrieren für den Marktzutritt, besonders starke Wirkungspotenziale – all diese Gründe greifen immer weniger. Die Regulierung muss andere knappe Güter finden, über deren Verteilung sie sich definiert. Bei der Suche kann sie sich an den genannten sechs vordringlichen Grenzziehungen orientieren.

Jede Regulierungsinstanz muss nachweisen können: Wir sorgen für akzeptable neue Grenzziehungen und leisten damit einen substanziellen Beitrag dazu, dass im Medienbereich öffentliche Güter in ausreichendem Maß bereitgestellt werden: eine vernünftige öffentliche Meinung, eine kreative Kultur, innere und äußere Sicherheit, eine solide Mediengrundbildung, ein belastbares Fundament wissenschaftlichen Wissens. Bei öffentlichen Gütern stehen wir vor einem Dilemma: Alle profitieren vom Nutzen, doch keiner mag etwas zu den Kosten ihrer Erstellung beitragen, da jeder hofft, dass dies die anderen schon in ausreichender Weise tun werden.  Wenn deshalb diese Güter nicht in ausreichender Weise über den Markt bereitgestellt werden können, müssen übergreifende Instanzen tätig werden, zumeist staatliche Einrichtungen, die in unterschiedlicher Weise für die Bereitstellung der öffentlichen Güter sorgen. Das erfordert erhebliche Ressourcen. Dies ist aus ökonomischer Sicht in dem Maß gerechtfertigt, wie damit öffentliche Güter in der erforderlichen Qualität und auf effiziente Weise produziert werden. Frage also: Was ist das öffentliche Gut, das die jeweilige Regulierungsinstanz für die Online-Welt produziert?

Betrachtet man Online-Regulierung unter einem prozessualen Aspekt, so fragt sich: Wie ist zu regulieren? Medienpolitische Regulierung war immer schon gekennzeichnet durch ein starkes Gewicht der Aushandlung von Regeln zwischen heterogenen medienpolitischen Akteuren. Dabei war und ist Vermittlungskompetenz gefragt. Darauf kann aufgebaut, aber es kann auch von der Netzkommunikation gelernt werden: weg von der Arkanpolitik in Kamingesprächen, hin zu einer transparenten Medienpolitik, die auf Netzforen erörtert wird. Regulierung als Organisation von Deliberation! Das klingt vielleicht naiv, noch naiver ist es freilich, an den eingefahrenen Routinen festhalten zu wollen. Denn die funktionieren nicht mehr ohne weiteres. Es sei an den „Schock“ (Frauke Gerlach) der Ablehnung des 14. Rundfunkänderungsstaatsvertrags im Dezember 2010 durch den nordrheinwestfälischen Landtag erinnert, die Marc Jan Eumann als lediglich taktisches Scharmützel erscheinen lassen möchte (vgl. FK 31-32/11, S. 6).

Insgesamt also birgt der Medienwandel erhebliche Risiken für Regulierungsinstanzen, aber auch die Chance, sich als lernende Organisation zu beweisen. Und das gilt nicht nur für die Regulierungsinstanzen im engeren Sinn, sondern auch für die Organisationen, die als Vertreter gesellschaftlicher Interessen in die Medienregulierung mit einbezogen sind, die Verbände, Kirchen und Vereinigungen, wie Patrick Donges angeregt hat („Die pluralen Gremien der Landesmedienanstalten und der ALM in der Governance-Perspektive“, Berlin 2011). Sie alle können den Medienwandel als Chance sehen, sich neu zu orientieren und neu zu vernetzen.

Gerhard Vowe, 58, ist an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Professor für Kommunikation und Medienwissenschaft.

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