Wall Street Journal

Das Wall Street Journal ist gemeinsam mit der britischen Financial Times eine der beiden weltweit führenden Wirtschaftszeitungen. Es erscheint von Montag bis Samstag. Die 1889 gegründete Zeitung hat ihren Sitz in New York und gehört zum Verlag Dow Jones. Bis 2007 war sie im Besitz der Familie Bancroft und galt als unverkäuflich. Dch Rupert Murdoch und dessen News Corporation überboten den Börsenwert um ein Vielfaches und übernahmen Dow Jones für fünf Milliarden Dollar. Murdoch hat Robert Thomson als Chefredakteur (Managing Editor) eingesetzt und positioniert das meinungspolitisch traditionell konservative Wall Street Journal stärker als Konkurrenzblatt und Alternative zur New York Times, die in den USA als einflussreichste und führende Tageszeitung gilt. Das Journal erhielt in den USA bislang 33 Pulitzer Preise für hervorragenden Journalismus. Die Print- und Online-Auflage liegt bei mehr als zwei Millionen und macht das Journal zur auflagenstärksten Tageszeitung in den USA (die reine Druckauflage liegt hingegen hinter USA Today). Weltweit verfügt das Journal über mehr als 750 redaktionelle Mitarbeiter (über Dow Jones sogar über 1900) und erreicht 3,8 Millionen Leser, unter anderem durch das Wall Street Journal Europe, das Wall Street Journal Asia und durch Kooperationen. Das Wall Street Journal Online, WSJ.com, ist der führende Anbieter von Wirtschafts- und Finanznachrichten und Analysen im Web und erreicht über eine Million Abonnenten und 26 Millionen User im Monat. Zu WSJ.com gehören auch MarketWatch.com, Barron.com und AllThingsD.com. Das Wall Street Journal Radio Network liefert Nachrichten und Informationen an mehr als 350 Radiostationen in den USA.

Basisdaten

Hauptsitz:
1211 Avenue of the Americas,
New York, NY 10036
Tel.: 001-212-416-2000
Internet: www.wsj.com 

Redaktion und Management:

  • Les Hinton, Chief Executive Officer, Publisher of The Wall Street Journal
  • Clare Hart, Executive Vice President, Dow Jones & Company President, Dow Jones Enterprise Media Group
  • Robert Thomson, Editor-in-Chief of Dow Jones. Managing Editor of The Wall Street Journal
  • Stephen Daintith, Chief Financial Officer, Dow Jones & Company
  • Gregory Giangrande, Senior Vice President, Chief Human Resources Officer
  • Mark H. Jackson, Executive Vice President and General Counsel
  • Paul A. Gigot, Editorial Page Editor, The Wall Street Journal
  • Joseph Vincent, Senior Vice President, Operations, The Wall Street Journal

 

 

Geschichte und Profil

Drei Journalisten im Alter zwischen 23 und 31 Jahren gründeten 1882 einen Dienst für Finanznachrichten an der New Yorker Börse, genannt Wall Street: Charles Henry Dow, Edward Davis Jones und Charles Milford Bergstresser hatten die Idee zu der Agentur. Der Name Dow, Jones and Bergstresser, so die Legende, schien ihnen zu lang. Man einigte sich auf Dow, Jones & Company, Inc. Damals gab es weder Pressemitteilungen noch Jahresberichte. Anleger waren oft ratlos, wenn sie entscheiden sollten, ob sich eine Investition lohnt. Gerüchte prägten die Börse. Zwar gab es Zeitungen über Handel, etwa das Journal of Commerce (seit 1827) und andere Vorläufer, aber ohne fundierte Börsennachrichten. Erst 1934 verpflichtete die Börsenaufsicht Firmen, Quartals- und Jahresberichte herauszugeben und damit der Öffentlichkeit Daten zugänglich zu machen. Deshalb war Dow, Jones & Company für viele Jahre die einzige Informationsquelle. Ihr Customers' Afternoon Letter war weltweit der erste Börsenbrief. Am 8. Juli 1889 wurde aus dem Customers' Afternoon Letter eine Zeitung mit doppelten Umfang, die zwei Cent kostete (fünf Dollar jährlich). Die erste Seite hatte vier Spalten, zwei davon bestanden aus Anzeigen. Die Idee für den Namen stammte von Bergstresser: The Wall Street Journal. Die Zeitung verfügte über 50 Mitarbeiter, darunter Clarence W. Barron, den Korrespondenten in Boston. Dow war der eigentliche kreative und journalistische Kopf hinter der Zeitung. Er warnte seine Reporter, keine Insidertipps der Unternehmen gegen gefällige Texte zu tauschen, sondern stets die Wahrheit zu berichten.

Das bis heute berühmteste „Produkt“ des Unternehmens ist der „Dow Jones Industrial Average“, kurz Dow Jones genannt. Der Kursindex des New Yorker Aktienmarktes gilt als wichtigstes Börsenbarometer der Welt. Um einen Überblick über den Markt und seine Entwicklung zu bekommen, veröffentlichte Charles Dow am 3. Juli 1884 den ersten Index, bestehend aus elf Unternehmen, die fast alle aus dem damals dominierenden Eisenbahnsektor kamen. Bis heute entscheidet die Redaktion des Wall Street Journal über die Zusammensetzung des mittlerweile von News Corp. verkauften Index.

Dow, Jones und Bergstresser trafen eine Kooperationsvereinbarung mit Barron, der seine eigene Agentur in Boston, das Boston News Bureau, betrieb und sie zu einer Finanzzeitung ausbaute. Jones schied aus der Firma aus, Dow starb und Barron kaufte das Unternehmen 1902 für 130.000 Dollar mit dem Geld seiner Frau Jessie M. Waldron, einer Witwe, die zwei Töchter mit in die Ehe brachte. Sie hielt die Anteile. Die nächsten 26 Jahre expandierte die Zeitung unter Barron: er entwickelte seine Agentur in Boston und die nach ihm benannte Wochenzeitung Barron’s, außerdem die Zeitung Philadelphia Financial Journal (die er 1896 gegründet hatte). Er verknüpfte die Publikationen in Philadelphia, Boston und New York und schuf damit die Grundlage für das überregionale Erscheinen des Wall Street Journal. Den Start einer Westküsten-Ausgabe am 21. Oktober 1929, die das Journal zur ersten Zeitung machte, die im Osten und West erschien, erlebte er allerdings nicht mehr. Er war ein Jahr davor, am 2. Oktober 1928, gestorben.

Die Auflage war unter ihm auf rund 50.000 gestiegen. Die beiden Ausgaben wurden in Ost und West produziert und tauschten Texte aus. Allerdings gab es unter Barron auch viel Wildwuchs. Er produzierte rund um die Uhr Ideen, die von bis zu drei Stenographen notiert wurden. Seine Reporter akquirierten auch Anzeigen für die Zeitung und wurden mit Provisionen bezahlt. Das verführte Reporter dazu, Unternehmen gefällig zu sein und PR statt Journalismus zu betreiben. Das Journal akzeptierte und förderte unter Barron solche Interessenskonflikte, wohl weil er selbst ähnlich agierte und sein Wissen für das eigene Vermögen einsetzte.

Die Anteile seiner Frau gingen später an die Tochter Jane Barron über. Sie heiratete Hugh Bancroft, der bei Dow Jones arbeitete. Nach dem Tod des Schwiegervaters leitete Hugh Bancroft die Firma und beendete die Interessenskonflikte zwischen Anzeigenabteilung und Redaktion. Als Bancroft 1933 im Alter von 54 Jahren starb (wahrscheinlich beging er Selbstmord), zogen sich die Eigentümer zurück und mischten sich fortan kaum mehr in die Tagesgeschäfte bei Dow Jones ein. Als Jane Bancroft Kenneth Craven Hogate zum Chef bei Dow Jones ernannte, sagte sie zu ihm: „Ich möchte, dass Sie das tun, was für die Firma am besten ist. Machen Sie und die Jungs sich keine Gedanken wegen der Dividenden.“ Der Spruch wurde zum Leitmotiv des Unternehmens – im Guten wie im Schlechten. Das Unternehmen galt stets als unverkäuflich. Als Joseph P. Kennedy 1949 Dow Jones kaufen wollte, bestimmte Barrons Stiefenkelin Jessie Bancroft Cox: „Großvaters Unternehmen ist nicht zu verkaufen - zu keiner Zeit und zu keinem Preis.“ Der Satz wurde Teil der Familien- und Verlagslegende und bis zur Übernahme durch Murdoch ein Mandat, das die Manager als ihre Geschäftsgrundlage betrachteten. Sie weigerten sich einfach, Kaufgesuche wahrzunehmen und reichten Angebote nicht einmal an die Familie weiter – angeblich aus Gründen der Corporate Governance.

Viele Jahre verzichtete das Journal auf Farben und Fotos und war vor allem erkennbar an einem Layout, das aus einer anderen Zeit zu stammen schien. Das Aussehen erhielt das Journal nicht freiwillig: Auf Fotos verzichtete man, weil Bilder nicht so leicht wie Texte von der Ost- an die Westküste übermittelt werden konnten, sondern nur per Kurier oder Flugzeug hätten transportiert werden können. Mitte der vierziger Jahre fusionierte das Journal mit dem Chicago Journal of Commerce und hoffte, dass Leser, die sich mit Aktiengeschäften befassen, und solche, die sich mit Warengeschäften bedienen, von ein und derselben Zeitung bedient werden.

1963 ging Dow Jones an die Börse (was den Eigentümern viel Geld einbrachte) und 1986 führte Dow Jones eine Zwei-Klassen-Struktur der Aktien ein – in stimmberechtigte Aktionäre (Familienmitglieder) und vergleichsweise stimmlose (freie Aktionäre). Die Aktien der Familie hatten zehnmal so viel Stimmgewalt wie normale Aktien. Das ermöglichte der Familie, an noch mehr Geld zu kommen, ohne die Kontrolle zu verlieren. Die Familie Bancroft verkaufte fortan mehr als 60 Prozent ihres Aktienanteils. Am Ende hielt sie nur noch 24,7 Prozent der Aktien, behielt aber 64,2 Prozent der Stimmrechte.

Jane Barron hatte drei Kinder, neun Enkel, 27 Urenkel und unzählige Ururenkel. Die nachfolgenden vier Generationen lebten von der Dividende (rund 80 Millionen Dollar jährlich), ohne sich um das Unternehmen allzu sehr zu kümmern. Sie überließen die Führung Managern und Anwälten, die ihre Rechte vertraten. Ein Stimmbindungstrust sollte 2006 verhindern, dass die Eigentümer uneins sind – ein solches Modell schützt auch die Eigentümer der New York Times. Die Bancrofts sollten stets mit einer Stimme führen. Doch die Nachkommen waren bereits so sehr über die Höhe der Ausschüttungen und das strategische Vorgehen zerstritten, dass sie sich nicht mehr darauf einigen konnten – der wohl entscheidende Grund, warum Murdoch Dow Jones kaufen konnte. Tatsächlich hatten die Bancrofts es lange als Erfolgsgarantie gesehen, dass sie sich nicht in das Tagesgeschäft einmischten und dadurch im Laufe der Jahre Expertise und Interesse an Dow Jones verloren.

  Seine heutige publizistische Bedeutung verdankt das Wall Street Journal Bernard „Barney“ Kilgore, der Leser von „Portland, Maine, bis Portland, Oregon“, also von der Ost- bis zur Westküste, bedienen wollte. Wenn Charles Dow, Edward Jones und Charles Bergstresser die Gründer und Clarence Barron der Eigentümer des Journal waren, dann war Barney Kilgore „das Genie“, wie sie ihn beim Journal nennen: der Mann, der das Journal heutiger Prägung erfand. Kilgore war der Visionär, der aus einer Zeitung der Ostküste die bedeutendste überregionale Zeitung in den USA machte, wie es Robert L. Bartley formulierte, einer seiner Nachfolger.

 Kilgore wurde 1929 eingestellt, berichtete aus San Francisco und Washington und arbeitete ab 1932 in New York. Er habe das Journal seit seiner Ernennung zum Chefredakteur (Managing Editor) 1941 im Alter von 32 Jahren bis zu seinem Tod 1967 dominiert wie kein anderer, schrieb Bartley. In dieser Zeit habe er die zwischenzeitlich gesunkene Auflage von 33.000 auf 1,1 Millionen Exemplare erhöht, die Philosophie, das Nachrichtenverständnis, die unternehmerische Organisation und Struktur entworfen und aufgebaut. Ohne Kilgore gäbe es das Journal in seiner heutigen Form nicht. Warren H. Phillips, der ehemalige Verlagschef von Dow Jones & Co, sagte, Kilgore sei ohne Frage die bedeutendste Person in der Geschichte des Wall Street Journal. Unter ihm gewann das Journal den ersten Pulitzerpreis für Kommentierung.

Kilgore sei „der berühmteste Zeitungsredakteur, von dem nie jemand gehört hat“, behauptet der Medienjournalist Michael Wolff. Richard Tofel, von 1989 bis 2004 leitender Redakteur des Journal, beschreibt Kilgores Strategien und Neuerungen in einer Biografie folgendermaßen: „Die Storys mussten kürzer sein; weniger von ihnen durften von einer Seite auf die nächste rüberspringen.“ Für die What’s News-Kolumnen erfand Kilgore Zusammenfassungen von Nachrichten. Eine der über viele Jahre prägendste Einführung war die A-Hed-Geschichte auf der Titelseite, die wohl ambitionierteste Geschichte, die das Journal jeden Tag zu bieten hatte – und jene, die das Feld einer traditionellen Wirtschaftszeitung am weitesten verließ und das Journal zugänglich machte für Leser, die nichts mit Wirtschaft am Hut hatten (weil Murdoch dem Journal nach der Übernahme ein neues Layout verpasste und den A-Hed abgeschaffte).
Das Journal lebt davon, Nachrichten exklusiv zu melden und Korruption zu enthüllen und es hat das oft getan. Legendär ist eine Auseinandersetzung mit General Motors, einem der großen Anzeigenkunden. Wegen unliebsamer Berichterstattung stornierte der Automobilhersteller zahlreiche Anzeigenaufträge; doch das Journal knickte nicht ein.

Längst berichtete das Journal neben Wirtschaft auch über Politik. Es beschäftigte mit Peter Kann einen eigenen jungen Korrespondenten, der aus Asien berichtete. Allerdings blieb es bei den beiden größten Geschichten der 70er Jahre – den Pentagon Papers und dem Watergate-Skandal – abgeschlagen hinter der Washington Post, der New York Times und der Los Angeles Times zurück. Und das, obwohl das Journal drei Reporter in Washington sitzen hatte, die für investigative Recherchen davor einen Pulitzerpreis erhalten hatten. Gerüchteweise wollte Waren Philips den Präsidenten nicht bloßstellen, weil der ihm einen Boschafterjob in China in Aussicht gestellt hätte – das Journal dementierte. Fred Taylor, einer der leitenden Redakteure, sagte, man sei einfach stets zwei Schritte hinterher geblieben und zum Aufholen nicht genügend motiviert gewesen. Die einen sagten, das Journal konzentriere sich eben auf Wirtschaft, obwohl es jahrelang die gegenteilige Strategie verfolgte. Andere sagten offen, das Journal sei schlicht nicht bereit gewesen, das Risiko dieser Recherche zu teilen.

Im Gegenteil: Kein anderer Zeitungsmann legte sich jahrelang so sehr für Nixon ins Zeug wie Robert L. Bartley, der Meinungschef des Journal – de facto einer von zwei Chefredakteuren. Der Spagat zwischen liberaler Berichterstattung und sehr konservativer Kommentierung ist eines der Markenzeichen des Journal. Dabei gingen seine Editorials oft über die Grenzen hinaus und beinhalteten eigene Recherchen.  Diese Haltung behielt Bartley jahrzehntelang bei und prägte damit die konservative Position des Journal. Mark Fabiani, der Pressesprecher des demokratischen Präsidentschaftsbewerbers Al Gore, spottete sehr viel später im Wahlkampf, er schätze die beiden Kommentarseiten der Wirtschaftszeitung als „wertvolle Informationsquelle“. Er lese sie oft und gerne, um bereits frühmorgens zu wissen, was das gegnerische Lager von George W. Bush einige Stunden später in seinen Pressemitteilungen zu sagen habe. Der frühere republikanische Fraktionsführer im Kongress, Newt Gingrich, sagte, Bartleys Seiten seien „das wichtigste Zentrum für Ideen der gesamten konservativen Bewegung“.

Bartley redigierte die Editorials mehr als 30 Jahre und schrieb bis zu seinem Tod 2003 eine wöchentliche Kolumne. Seine Kommentatoren waren oft keine Journalisten, sondern „Denker“, die er direkt von den Universitäten rekrutierte, um ihre Meinung und ihren Stil in jungen Jahren formen zu können. Sein Einfluss beruht nicht zuletzt auch auf dem Umstand, dass seine Schreiber sich wenig aus den Fakten machen, die die Reporter des „Journals“ auf den vorderen Seiten berichten. Er ließ seine Mitarbeiter selbst recherchieren und druckte gerne „investigative Kommentare“. Er machte seine eigene Zeitung innerhalb des Journals. Während die Reporter den Junkbond-Spekulanten Michael Milken als Kriminellen und den Richter am Obersten Gerichtshof, Clarence Thomas, als Rassisten und Lügner vorführten, pries Bartley beide als Helden. Ronald Reagans Politik, den Verteidigungshaushalt anzukurbeln, pries er nachhaltig. Dass er oft den Berichten der eigenen Zeitung widersprach, hat dem Blatt den Ruf einer „gespaltenen Persönlichkeit“ eingetragen. Dass „Journal“-Reporter ihm zu große Parteilichkeit vorwarfen, verstand er als Zeichen von „Unabhängigkeit“.

Trotz dieser Kämpfernatur war Bartley unscheinbar. Er mied Journalistenstammtische und Talkshows. Als am auffälligsten neben seinen dicken Brillengläsern galt seine Unauffälligkeit. Dass sich an manchen Tagen bis zu drei verschiedene Staatspräsidenten bei ihm zum Frühstück, zum Lunch und zum Dinner ansagten, habe ihn nie sonderlich stolz werden lassen, versicherten seine Mitarbeiter.

Bis in die achtziger Jahre war das Wall Street Journal ein Blatt, das sich an ausgesprochen „kleinkarierte Geschäftsleute wandte“, wie Michael Wolff schreibt. Die Leserschaft setzte sich „aus Investoren und leitenden Angestellten sowie Investoren und leitenden Angestellten im Ruhestand“ zusammen. 1979 hatte das Journal 1.775.000 Leser, womit es zur auflagenstärksten Zeitung in den USA avancierte. Die New York Times kommentierte damals, als das Journal das New Yorker Boulevardblatt Daily News überholte: „Für die Leute, die die Tageszeitungen des Landes herausbringen, ist das Wall Street Journal immer eine Art Stiefbruder gewesen. Schon ein Mitglied der Familie, aber ohne große Familienähnlichkeit... und sicherlich eine Zeitung ohne generellen Reiz.“

Bis 1980 bestand das Journal aus einem 48 Seiten umfassenden Teil, dann wurden es zwei und 1988 drei. Das Thema Wirtschaft wurde auf Kultur und Lifestyle ausgedehnt. Über Manager wie Lee Iacocca, Donald Trump, Michael Milken und Bill Gates wurde nun berichtet, wie andere Zeitschriften über Unterhaltungsstars berichteten.
Doch auch die Konkurrenz entdeckte den Markt für Wirtschaftsnachrichten: 1982 brachte der Konkurrenz-Verlag Gannett USA Today auf den Markt, eine überregionale Zeitung im Boulevardstil für 25 Cent – das Journal kostete 50 Cent -, die das Journal an Auflage überholte. Mit Investor’s Business Daily erschien eine Zeitung, die das gleiche Publikum wie das Journal im Auge hatte. Zudem brachte die New York Times eine überregionale Ausgabe heraus.

1989 wurde der ehemalige Reporter Peter Kann, ein mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneter Auslandskorrespondent, Herausgeber des Journal, 1991 wurde er zum CEO ernannt; später wurde er als Nachfolger von Warren Philips auch CEO und Vorstandsvorsitzender von Dow Jones. In seiner Zeit besann sich das Journal auf seine Erfolgsstrategie – weit über die Wall Street hinaus. So wie Kilgore einst landesweit expandierte, so eroberten sein Nachfolger Peter Kann und die Chefredakteure Norman Pearlstine (1983 bis 1991) und Paul E. Steiger (1991 bis 2007) mit Ausgaben in Asien und Europa die Welt. Die Auflage des Journal kletterte in den 80er Jahren auf die Zwei-Millionen-Marke, doch in den 90ern wurde USA Today die auflagenstärkste Zeitung der USA.

Die Ausgabe für Asien lag nahe für den ehemaligen Asien-Korrespondenten Kann. Sie startete 1976; die Auflage liegt heute bei 85.822 Exemplaren. Das Wall Street Journal Europe startete 1983 mit Sitz in Brüssel; die Auflage beträgt heute rund 75.000 (Deutschland rund 16.000; Schweiz und Österreich je rund 4000). Zeitweise war der Verlag Holtzbrinck („Handelsblatt“) Partner und Teilhaber des Wall Street Journal Europe.

Diversifikation war bereits unter Kilgore Thema bei Dow Jones, denn 1956 erwirtschaftete das Journal mehr als 80 Prozent des Gewinns. Der Kauf des Magazins Newsweek war im Gespräch, aber Kilgore fürchtete, dass die Zeitschrift Dow Jones zu sehr vom Journal entfernen würde. Mit anderen Worten: er war hin und hergerissen in seinen Überlegungen. In den folgenden Jahren konzipierte er „The National X“ – eine Zeitung, die keine Nachrichten liefern, sondern Nachrichten einordnen sollte. Für ihn war das die konsequente Weiterführung des Journalismus in die Richtung, die er beim Journal eingeschlagen hatte. Kilgore hatte eine Zeitung nach der britischen Sunday Times oder dem Observer im Sinn und war fest davon überzeugt, dass es dafür in den USA einen Markt geben müsste, und zwar einen nationalen Markt, den er auch mit dem Journal erschlossen hatte, nur viel größer. Er dachte an 35 bis 40 Millionen Leser. Als Kilgore seine Pläne dem Board von Dow Jones vorstellte, hielt sich die Begeisterung in Grenzen. Immerhin bewilligten die Vorstandskollegen eine Projektredaktion.

1962 startete The National Observer als landesweite Sonntagszeitung. Die Auflage betrug 223.000 Exemplare; die Redaktion lag zunächst bei 23 und wurde auf 32 Personen erhöht. 1965 machte der Observer zwei Millionen Dollar Verlust, 1974 gewann er einen Pulitzerpreis und die Verluste waren auf 300.000 Dollar jährlich gesunken. Doch statt in die Gewinnzone geriet die Zeitung wieder deutlich ins Minus. Zwar war die Auflage 1973 auf über 560.000 geklettert. Aber der Anzeigenmarkt stagnierte und die Verluste summierten sich in 15 Jahren auf 34 Millionen Dollar. „Wird mein Baby es schaffen?“ soll Kilgore kurz vor seinem Tod 1967 seinen Nachfolger gefragt haben. Zehn Jahre später stellte Verlagschef Warren Philips, der Nachfolger von Kilgores Nachfolger den Observer ein. Das Scheitern hatte Folgen, die über die Bedeutung des Observer hinaus reichten, schrieb Francis X. Dealy in „The Power and The Money. Inside The Wall Street Journal“. Die Folge sei nämlich, dass das Journal Risiken scheue und Innovation unterdrücke.

Bis 1970 kam das Journal für 94 Prozent der Gewinne von Dow Jones auf. Zehn Jahre später waren es nur mehr knapp 60 Prozent. 1982 arbeiteten nur mehr fünf Prozent der 4800 Mitarbeiter von Dow Jones ausschließlich für das Journal, das neben der gedruckten Ausgabe auch Radio- und Fernsehbeiträge produzierte. Dow Jones gab darüber hinaus diverse Publikationen heraus, darunter Book Digest.

Höhepunkt der Strategie der Diversifikation war der Kauf des Finanzdaten-Anbieter Telerate. Verlagschef Philips hätte Telerate 1974 für eine Million Dollar kaufen können. Oder 1981 für 80 Millionen Dollar. Oder 1986 für 800 Millionen Dollar. Stattdessen kaufte er Telerate scheibchenweise von 1986 bis 1990 und zahlte dafür 1,6 Milliarden Dollar. Telerate sollte expandieren und versprach Erfolg bevor man es kaufte, immerhin war es fünf Jahre in Folge um jeweils 50 Prozent gewachsen. Doch bei Dow Jones entwickelte es sich nicht wie erwartet und fiel gegenüber der Konkurrenz von Reuters und Bloomberg zurück. Die Verlagsmanager verstanden nichts von elektronischen Finanzdaten. Sie versagten nötigte Investitionen und der Dienst galt bald als träge. Die Versäumnisse des Verlags macht der Aufstieg von Michael Bloomberg deutlich, der seine Finanzagentur in den 80er Jahren mit Hilfe des ehemaligen Wall Street Journal-Reporters Matthew Winkler aufbaute. Die beiden hatten sich kennen gelernt, als Winkler ihn für das Journal interviewte. Bloomberg warb ihn ab und machte ihn zum Chefredakteur. Heute ist Bloomberg LP ein Unternehmen mit Milliardenumsatz. Selbst Reporter des Journal bevorzugten die Terminals von Bloomberg gegenüber den Computern von Telerate. Als Dow Jones 1997 doch 650 Millionen Dollar in die Modernisierung steckte, war es zu spät. Telerate hatte den Anschluss verloren. 1998 verkaufte der Verlag Telerate und musste eine Milliarde Dollar abschreiben. Ähnlich erfolglos verlief der Einstieg ins Fernsehen. Beim Verkauf des Financial News Network zog Dow Jones gegenüber CNBC den Kürzeren; der Aufbau eines eigenen Senders schlug fehl.

1986 erreichte der Aktienkurs mit 57 Dollar einen vorläufigen Höchststand, der im Zuge des Internetbooms sogar bis auf 75 Dollar kletterte. Allerdings gab Dow Jones Pläne für einen Börsengang seiner Internet-Publikationen - darunter SmartMoney.com und die Datenbank Factiva – im Juli 2000 auf. Angesichts der schlechten Marktsituation werde diese Entscheidung wohl niemanden überraschen, sagte Dow-Jones-Chef Peter Kann. 2002 fiel das Anzeigenaufkommen des Wall Street Journal um 49 Prozent hinter das des Boomjahres 2000 zurück, der Umsatz des gesamten Konzerns sank um 30 Prozent auf knapp 1,6 Milliarden Dollar. Der Aktienkurs fiel auf rund 30 Dollar.

2007 wurde das Journal Teil des Medienimperiums von Rupert Murdochs News Corp. Wie war Murdoch der Kauf des Journal gelungen? Klar ist: Murdoch wollte das Wall Street Journal besitzen; am Verlag Dow Jones lag ihm weniger. Familie Bancroft war sich nicht einig. Murdoch bot mit 60 Dollar einen Aktienkurs, der weit über dem Börsenkurs lag. Der Kaufpreis lag somit bei 5,2 Milliarden Dollar, die ihn 2009 zu hohen Abschreibungen zwangen.
Um Kritiker und öffentliche Proteste gegen seine Übernahme entgegen zu wirken, machte er Zusagen, wie er die Unabhängigkeit der Redaktion bewahren werde. Ein Gremium sollte die Unabhängigkeit überwachen. Doch davon unbeeindruckt, überging Murdoch selbst nach der Übernahme im Dezember 2007 Redaktion und Chefredakteur Marcus Brauchli und drängte ihn 2008 aus dem Amt. Murdoch regierte die Redaktion mit Hilfe von Robert Thomson, des von ihm neu installierten Herausgebers. Nur durch Zufall hatte Brauchli beispielsweise erfahren, dass die US-Ausgabe der Zeitung auch in London gedruckt wird.

Murdoch informierte das Gremium persönlich, er habe sich „freundschaftlich“ mit Brauchli geeinigt. Murdoch zahlte Brauchli angeblich 3 bis 5 Millionen Dollar Abfindung und dieser bestätigte dem Gremium, dass er freiwillig gehe. Zum Nachfolger berief Murdoch Robert Thomson, der Murdoch angeblich zum Kauf von Dow Jones geraten hatte.

Management

Rupert Murdoch und Chefredakteur Robert Thomson verbindet die Heimat Australien. Der gelernte Journalist war Korrespondent der Financial Times in China und fungierte als Chef der US-Ausgabe des britischen Wirtschaftsblatts. Später war er Chefredakteur der Times in London, die ebenfalls Murdoch gehört. „Ich bin der Kopf der Inhalte“, sagte Thomson zu seiner Funktion beim Wall Street Journal in einem Interview der New York Times. Der Redaktion versicherte er, Murdoch wolle die Tradition der Zeitung bewahren und werde jährlich sechs Millionen Dollar in vier neue Seiten für Auslandsnachrichten investieren. Die New York Times und die Financial Times seien der Feind, hatte Thomson den Mitarbeitern des Wall Street Journal im Januar 2008 gesagt, und hinzugefügt, der eigentliche Feind aber sei die Zeit. Damit meinte er die Zeit der Leser. Die Artikel müssten schneller auf den Punkt kommen.

Seitdem greifen Murdoch und Thomson mit dem Journal die New York Times mit harten politischen Nachrichten aus Washington, mit Auslandsnachrichten und mit einem Magazin an. Das Project for Excellence in Journalism in Washington untersuchte die Titelseite des Wall Street Journal seit der Übernahme und bestätigt 2008 diese Entwicklung. Die Zeitung habe den Schwerpunkt von der Wirtschafts- auf die Politik-Berichterstattung verlegt. So habe sich der Anteil von Politik mehr als verdreifacht von ehemals fünf auf 18 Prozent; der Anteil der Wirtschaft habe sich von 30 auf 14 Prozent mehr als halbiert.

Folgt Murdochs Journal noch dem Geist von Kilgore? Murdochs Verständnis vom Zeitungsmachen sei antiquiert, sagen Mitarbeiter. Er sehe die Funktion einer Zeitung darin zu berichten, was gestern war. Kilgore dagegen untersagte seinen Reportern, die Relevanz von Nachrichten durch die Wörter „heute“ oder „gestern“ zu rechtfertigen. Er war überzeugt, dass Leser vor allem erklärt haben wollen, was Nachrichten für die Zukunft bedeuteten. Kilgore führte die Tradition des narrativen Erzählens ein, die das Journal perfektionierte. Murdoch könne damit nichts anfangen, sagen Reporter des Journal. Er sei dafür als Leser zu ungeduldig, ein Nachrichtenjunkie, der keinen Wert lege auf die Vermittlung komplexer Zusammenhänge und nicht nur die Geschichte der Sieger, sondern auch von Verlierern und Opfern zu erzählen.

Paul E. Steiger, bis 2007 Chefredakteur, verlangte von seinen Reportern Geschichten „mit moralischer Kraft“. Heraus kam die zehnteilige Serie „China’s Naked Capitalism“, die 2007 den Pulitzerpreis erhielt. Darin untersuchte das Journal die wahren Kosten des wirtschaftlichen Aufstiegs Chinas und berichtete über Arbeiter, deren Arbeitstag nach 15 Stunden noch nicht zu Ende ist, über Kinder mit stark erhöhten Bleiwerten im Blut und den einsamen Kampf eines Arztes gegen Umweltverschmutzung. „Chinas Probleme sind die Probleme der Welt,“ begründete Steiger die Recherchen. Solche Erzählungen über Opfer von Wirtschaftserfolgen und investigative Enthüllungen über Fehlentwicklungen haben dazu geführt, dass der amerikanische Konsumentenanwalt Ralph Nader einmal bemerkte, das Journal sei die Zeitung, die am wirkungsvollsten über die dunklen Seiten des Wirtschaftssystems aufkläre.

Indem Murdoch solche Erzählungen streicht, verliert das Journal seine Seele, die es stets von anderen Wirtschaftsblättern unterschied. Das Journal werde USA Today ähnlicher, sagen Kritiker. Zwar hat Murdoch investigative Recherchen nicht eingestellt. Aber indem er und sein Chefredakteur Robert Thomson mehr Geschichten forderten, fehle Reportern Zeit für Recherche und große Projekte, heißt es. Harold Evans, ein ehemaliger Chefredakteur der Londoner Sunday Times, der einst 1981 im Streit mit Murdoch ging, sagte dem Wochenblatt „The Nation“, Murdoch habe das Journal „stark verbessert“. Der Chefredakteur der New York Times, Bill Keller, dagegen sagte, als Leser vermisse er die gut erzählten Stücke und die ambitionierten investigativen Projekte. Vermutlich gefällt Keller weniger, dass das Journal seiner Times ähnlicher wird, vermutlich hat sein Blatt Leser an das Wall Street Journal verloren und vermutlich liegt das an der stark konservativen Kommentierung des Journal.

Internetpräsenz und Online-Performance

Ein anerkannter Erfolg ist die Online-Ausgabe des Journal, wsj.com, die 1996 startete. In ihrer Redaktion arbeiten mehr als 90 Journalisten. Sie ist eine Besonderheit, weil sie Abogebühren verlangt und dennoch erfolgreich ist. Damit zählt das Wall Street Journal zu den wenigen Zeitungen, die im Internet Geld verdienen. Das Online-Jahresabo kostet 49 Dollar, Print-Abonnenten zahlen 29 Dollar. Die Gesamtzahl der Online-Abonnenten liegt bei mehr als einer Million. Im Januar 2002 startete mit CWSJ.com eine Online-Ausgabe in chinesischer Sprache, deren monatliche page views im zweistelligen Millionenbereich liegen. Außerdem erscheinen Online-Ausgaben für Indien sowie auf Portugiesisch und Spanisch.

Mit dem „OpinionJournal“ schenkte das „Wall Street Journal“ seinem Kommentarchef Robert L. Bartley im Jahr 2000 eine eigene Online-Plattform. Die Website „OpinionJournal“ war nicht zufällig während des Parteitags der Republikaner gestartet - als Site, auf der Bartley kräftig gegen den demokratischen Kandidaten Al Gore zu Felde zog. Im Gegensatz zur kostenpflichtigen Webpräsenz ist OpinionJournal.com kostenfrei – ebenso wie die Online-Ausgaben in Asien und Europa. Für Herbst 2009 kündigte WSJ.com ein Mikrozahlmodell an, bei dem neben dem Abo auch einzelne Artikel gegen Gebühr genutzt werden können.

Die Abos der Online-Ausgabe sorgen dafür, dass das Wall Street Journal im Oktober 2009 meldete, USA Today als auflagenstärkste Tageszeitung der USA abgelöst zu haben. Tatsächlich hatte USA Today 2009 so kräftig wie nie davor an Auflage eingebüßt. Allerdings weist das Journal die gedruckte und elektronische Auflage nicht gesondert aus, was dazu führte, dass USA Today mit einiger Berechtigung behauptet, immer noch die auflagenstärkste gedruckte Tageszeitung der USA zu sein. Nach leichtem Zuwachs beträgt die gesamte Auflage nun 2.024.269 Exemplare. Während andere Zeitungen in den USA zehn Prozent an Auflage einbüßten, ist das Journal die einzige überregionale Zeitung, die zulegen kann.

Europa-Ausgabe

Was Kilgore in den USA versuchte, das versucht auch das Wall Street Journal Europe: eine breite Leserschaft finden. Man sei sich beim Start 1983 einig gewesen, dass die Zentrale auf dem Kontinent liegen müsse, aber nicht in Deutschland liegen dürfe, sagte Fred Kempe, der langjährige Chefredakteur, 2002. So schieden Frankfurt und London aus. „Wir wollten weniger englisch sein als die Financial Times.“ Deshalb fiel die Wahl auf die belgische Hauptstadt. „Brüssel hat den Vorteil, dass man wirklich über ganz Europa berichtet.“ sagte Kempe damals. „Hier ist es leichter, gegenüber den einzelnen Ländern neutral zu sein. Man hat einen weiteren Blick.“

Nun rückte die Europa-Ausgabe unter Murdoch weiter von Deutschland und vom europäischen Festland ab, zumindest was die Führungsspitze und die inhaltliche Ausrichtung betrifft. Während Kempe als Sohn eines gebürtigen Dresdners behaupten konnte „Ich kenne deutsche Politik fast besser als die amerikanische“, ist die europäische Ausgabe heute auf Großbritannien fixiert. Im Sommer berief Murdoch mit Patience Wheatcroft die ehemalige Chefredakteurin des Sunday Telegraph als neue Chefredakteurin der Europa-Ausgabe. Die Zentrale zog nach London um. Davor hatte die neue Chefin zeitweise die Seiten gewechselt und für eine Bank gearbeitet.
Den Blick weiten? Was bedeutet der Umzug für die inhaltliche Ausrichtung des Journal? Die neue Chefin beantwortet diese Frage nicht. Dem Vernehmen nach, hat sie den Fokus geändert und betrachtet das europäische Festland als zweitrangig. Die weltweit 400 Reporter des Journal berichten vor allem für die amerikanische Ausgabe. In London wird nun eine Best-of-Version der amerikanischen Ausgabe produziert, weil der dortige Markt als einziger Wachstum verspricht.

Kempe vermittelte den Kollegen in New York das Gefühl, Brüssel werde das Washington von Europa werden. Folgenschwere Entscheidungen der Wettbewerbsbehörden gegen Microsoft und andere amerikanische Unternehmen schienen das zu belegen. Kempe durfte viel Geld ausgeben und ihm kam gelegen, dass der Holtzbrinck Verlag im Konkurrenzkampf mit Gruner+Jahr einen Partner für das Handelsblatt gegen die Financial Times Deutschland suchte und sich darauf einließ, die Hälfte der Verluste des Wall Street Journal Europe zu finanzieren. Doch als der Erfolg ausblieb und Kempes Traum sich nicht verwirklichen ließ, wechselte er 2006 nach Washington zur Denkfabrik Atlantic Council. Holtzbrinck beendete die Kooperation.

Mittlerweile gilt das Wall Street Journal Europe nur mehr als ein Schatten der einstigen Version: Berichteten unter Kempe noch sieben Korrespondenten über die EU, Europa und Nato, so sind es heute nur mehr drei. Weil man 18 Millionen Dollar einsparen wollte, wurde vor Murdochs Übernahme sogar diskutiert, die Europa-Ausgabe einzustellen. Dazu kam es nicht. Stattdessen wurde auf das kleinere Tabloid-Format umgestellt, um Produktionskosten zu sparen.

Zu Kempes Zeiten redigierte und produzierte eine Redaktion in einem Gebäude in Brüssel die gesamte Zeitung. Heute wird sie weitgehend in New York redigiert. Die Auflage der europäischen Ausgabe stagniert: Kempe strebte eine Verdopplung der Auflage auf rund 140.000 Exemplare an. Zwischenzeitlich lag sie bei 100.000, inzwischen ist sie auf deutlich unter 80.000 gerutscht und liegt bei rund 75.000. Kempes Träume von einer eigenständigen Zeitung wirken wie aus einer anderen Zeit, der Zeit Kilgores.

Heute hat die Europa-Ausgabe nicht mehr normale Bankkunden im Blick, sondern eine Elite aus kaufkräftigen Bankern und Managern. Offiziell wird das nicht gesagt; aber zahlreiche Kolumnen für diese Klientel bestätigen es. Das Journal verfolgt also in den USA und in Europa zwei unterschiedliche Strategien. In den USA lebt der Geist von Kilgore. Und in Europa? Man kann es den Geist von Murdoch nennen. Seit April 2008 ließ Murdoch die US-Ausgabe auch in London drucken. Jetzt hat er entschieden, diese Ausgabe einzustellen, wie es in einer Presseerklärung heißt. Dahinter verbirgt sich eine gute Nachricht für das Wall Street Journal Europe, denn die Einstellung der US-Ausgabe bedeutet, das die Europa-Ausgabe weiter bestehen wird.

Aktuelle Entwicklungen und Ausblick

In der Redaktion des Wall Street Journal in New York herrsche Erleichterung, dass man in Krisenzeiten überhaupt noch einen Job als Reporter habe, schrieb „The Nation“ im April 2009. Ein Reporter fasste diese Stimmung damals so zusammen: „Ist es besser auf einem sinkendem Schiff zu sein oder auf einem, das von Piraten geentert wurde? Während andere Zeitungen sinken, schwimmen wir immer noch.“

Die steigende Auflage ist jedoch kein Garant fürs Ãœberleben. Ende Oktober 2009 informierte Chefredakteur Robert Thomson seine Redaktion, dass das Büro in Boston, in dem neun Reporter arbeiten, aufgrund des Anzeigeneinbruchs geschlossen werde. Ausgebaut werden soll die Berichterstattung in New York: Murdoch will einen New Yorker Lokalteil gründen, in dem ab 2010 zwölf Journalisten für das Journal über Kultur und Lokalpolitik informieren und die New York Times angreifen sollen. Ein ähnlicher Lokalteil soll in San Francisco starten, allerdings bereits Im Dezember 2009.  
Unrentable Verlagsteile, etwa die hoch angesehene Monatszeitschrift Far Eastern Economic Review, stellte Murdoch ein.

Ausgerechnet Fred Kempe, der einstige Chefredakteur, sagt heute, das WSJE hätte schon längst von Brüssel nach London umziehen sollen, weil London nun mal die europäische Finanzhauptstadt und deshalb für eine Wirtschaftszeitung bedeutsamer sei. Dow Jones habe damals seine Strategie zu früh aufgegeben, sagt Kempe. Die Verlagsmanager hätten zu kurzsichtig gehandelt. Vielleicht habe Murdoch mehr Geduld.
Murdoch habe jedenfalls zahlreiche Plätze für eigene Geschichten im Blatt geschaffen und das Verschwinden der ausführlich erzählten Reportagen störe ihn nicht, sagt Kempe, solange das Journal weiterhin relevante investigative Recherchen, wie einst „Barbarians at the Gate“ (deutscher Buchtitel: „Die Nabisco Story“) unternehme und drucke. Die Reportagen dagegen seien ein Mythos, der sich selbst erhalten habe. Dabei seien sie zuletzt zu oft formalistisch erstarrt gewesen. Murdochs Journal sei lebendiger und lesbarer.

Er sehe Anzeichen dafür, sagt Kempe, dass die europäische Ausgabe eigene Marken entwickle und halte das für die richtige Strategie. Es müsse sich von der Strategie bzw dem Abdruck der Texte aus dem amerikanischen Mutterblatt lösen. Ob Murdoch das Journal verschlechtere oder verbessere und es sich als globale Wirtschaftszeitung durchsetzen könne, das werde man wohl erst in einigen Jahren beurteilen können. Er selbst jedenfalls lese das Journal mit Zuversicht, dass Murdoch das Journal verbessern kann.

Seit Mitte November 2009 erscheint das Wall Street Journal Europe in neuem Design, als „maßgeblich erweiterte und verbesserte Zeitung“, wie der Verlag Dow Jones betont. „Wir bringen mehr Analysen und Kommentare, neue Kolumnen mit einzigartigen Hintergrundinformationen und neue Features, die auch berücksichtigen, dass unsere Leser ein Leben außerhalb der Arbeitswelt haben“, sagte Chefredakteurin Patience Wheatcroft. Zu den Neuerungen gehörten neben „The Big Read“ („ein täglich erscheinender fundierter, ausführlich recherchierter Artikel“) und „C-Suite, ein neuer Bereich in der Zeitung, der sich mit verschiedenen Lebenswelten außerhalb des Büros“ wie Reise und Gesundheit befasst, auch eine tägliche Sportseite. Europe.wsj.com, die europäische Website von Wall Street Journal Online, baut ihr Angebot mit den neuen Kolumnisten, Interviews und Analyse-Features und mit einem neuen täglichen E-Mail-Update unter dem Titel „World At A Glance“ aus.

Den Anzeigenkunden stünden künftig in den neugestalteten Print- und Onlineausgaben mehr Anzeigenplätze zur Verfügung, sagte Herausgeber Andrew Langhoff. Aber genau da liegt ein Problem: Das Anzeigenaufkommen geht zurück. Das Journal versucht den Werbekunden offenbar Leser anzubieten, die sich aufwendigen Lebensstil leisten können. Langhoff hofft auf „eine größere Leserschaft innerhalb unserer Zielgruppe von europäischen Top-Managern, die international agieren. Diese Leserschaft gestaltet die Welt der Wirtschaft und Finanzen neu, an sie richtet sich unser Angebot.“

Referenzen/Literatur

  • Crossen, Cynthia: It All Began in the Basement of a Candy Store, Wall Street Journal, 01.08.2007
  • Dealy Jr, Francis X.: The Power and The Money. Inside The Wall Street Journal, New York, 1993
  • Dow Jones Newswires: Robert L. Bartley dies at 66, Opinion Journal, 10.12.2003
  • Kempe, Fred: Online-Interview; 03.11.2009
  • Rosenberg, Jerry M.: Inside The Wall Street Journal, New York, 1982
  • Scharff, Edward E.: Worldly Power, The Making Of The Wall Street Journal, New York, 1986
  • Schuler, Thomas: „Die Leute bezahlen sogar“, Besuch in der Online-Redaktion des Wall Street Journal in New York, Süddeutsche Zeitung, 15.04.1998
  • Schuler, Thomas: Manche Leser werden schockiert sein; Das "Wall Street Journal Europe" expandiert, Berliner Zeitung, 08.02.2000
  • Schuler, Thomas: Blitzkrieg gegen Al Gore, Wall Street Journal-Chef Robert L. Bartley kämpft seit über 30 Jahren für die Republikaner, Berliner Zeitung, 04.10.2000
  • Schuler, Thomas: Extrablatt für Europa – das Wall Street Journal Europe, Besuch in Brüssel bei Chefredakteur Frederick Kempe; Print Process, 20/2002
  • Schuler, Thomas: Freunde der Oper; Ein Gremium soll die Unabhängigkeit des Wall Street Journal sichern; Süddeutsche Zeitung, 12.11.2007
  • Schuler, Thomas: „Schlag sie mit ihren Stärken“, Wie Rupert Murdoch mit dem Wall Street Journal die New York Times angreift; Neue Zürcher Zeitung, 02.05.2008
  • Schuler, Thomas: „Der weite Blick. Das Wall Street Journal kämpft um den Stil, mit dem es jetzt zur auflagenstärksten Tageszeitung der USA wurde “, Süddeutsche Zeitung, 12.11.2009
  • Schuler, Thomas: „Besser Britisch“ Neuerungen beim Wall Street Journal Europe, Berliner Zeitung, 19.11.2009
  • Sherman, Scott: Has the Journal lost its Soul? The Nation, 22.04.2009
  • Tofel, Richard: Restless Genius. Barney Kilgore, The Wall Street Journal, and the Invention of Modern Journalism; New York, 2009
  • Tofel, Richard: Online-Interview; 25.10.2009
  • Wolff, Michael: Der Medienmogul, München, 2009