Karl-Heinz Ladeur: Der hybride Charakter - Das Fernsehen im multimedialen Netzwerk der Netzwerke

29.07.2011

I.
Dem Beitrag von Lutz Hachmeister und Thomas Vesting kommt das Verdienst zu, die irritierende Ruhe in der deutschen Medienpolitik gestört zu haben. Ihr Text beinhaltet zum einen eine Polemik gegen aktuelle Erscheinungsformen des in Ritualen
erstarrten Rundfunkpluralismus, der dem grundlegenden Wandel des Mediensystems
hilflos ausgesetzt zu sein scheint. Zum anderen widmet sich der Beitrag eher grundsätzlichen Fragen der Medienverfassung – insbesondere fragt er danach, was von der Rundfunkverfassung des Bundesverfassungsgerichts bleibt. Zu den in letzterem Kontext aufgeworfenen Problemen möchte ich einige Überlegungen anstellen.

II.
Alle sprechen von der Medienrevolution, doch im deutschen Rundfunkverfassungsrecht
scheint alles beim Alten zu bleiben. Dieser Eindruck wird dadurch bestätigt,
dass das Rundfunkrecht weitgehend durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geschrieben worden ist. Alle möglichen Grundfragen und Details sind durch seine Entscheidungen geregelt worden. Doch die letzte Entscheidung in der Reihe der durchnummerierten Rundfunkurteile – zur Subjektivierung der primär
objektiv-funktional verstandenen Rundfunkfreiheit privater Veranstalter – ist schon
1998 ergangen (sie betraf konkret den Sender Extra-Radio). Ein Nachzügler dieser
Reihe, das 2007 ergangene zweite Rundfunkgebührenurteil, hat charakteristischerweise die finanzielle Basis der öffentlich-rechtlichen Veranstalter weiter gesichert, im Übrigen aber in obiter dicta die programmliche quantitative Expansion der Anstalten ziemlich unkritisch gutgeheißen. Ein weiteres Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2008 zur Beteiligung der politischen Parteien an privaten Veranstaltern ist nur von marginaler Bedeutung.

Rundfunkverfassungsrechtlich scheint alles gesagt zu sein. Ob die jüngst erhobene
Klage von Zeitungsverlagen gegen die „Tagesschau“-App und damit pars pro toto
gegen die Expansion der öffentlich-rechtlichen Sender im Internet (vgl. FK 24/11 und
25/11) zu einer grundsätzlichen Wende gegen die durch das Bundesverfassungsgericht
befestigte duale Rundfunkordnung führen wird, bleibt abzuwarten. 13 Jahre nach den
letzten bedeutsamen Rundfunkurteil des obersten deutschen Gerichts – und dieser
Zeitraum ist in der Medienwelt eine Ewigkeit – kann man heute konstatieren, dass die
Rundfunkverfassung inzwischen auf tönernen Füßen steht, weil die Zentrierung um
den öffentlich-rechtlichen Rundfunk längst ausgehöhlt worden ist: Das Bundesverfassungsgericht hat seine durchaus eindrucksvolle Konstruktion der Rundfunkverfassung auf der Annahme aufgebaut, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk der „eigentliche“, eben auch in programmlicher Hinsicht vielfältige Rundfunk sei. Erst auf dieser Grundlage ist dann auch der (niedrigere) „Grundstandard“ der Vielfalt, den die Privaten zu gewährleisten haben, akzeptabel. Diese Vorstellung einer staatlich-gerichtlich geordneten Hierarchie hat sich unter den Bedingungen nicht nur der Vervielfältigung der Programme als eine Illusion herausgestellt.

III.
Die Kritik an den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und der nicht zu
leugnenden Veränderung ihrer Programme ist sicher teilweise ungerecht, wenn sie von
der Erwartung bestimmt wird, dass man sich einfach dem Wandel entgegenstemmen
müsse. Dies würde zu einem Absinken der Einschaltquoten der öffentlich-rechtlichen
Programme führen – was man auch gutheißen mag –, aber auch dann muss man eine
Vorstellung vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk unter den Bedingungen von Multimedia
haben. Nicht aber kann man einfach an dem festhalten, was sich früher bewährt
hat. Medienpolitik muss heute ihrerseits in Netzwerken denken. Man kann insbesondere
– nicht zuletzt wegen der größeren Bedeutung der Fernsehökonomie gegenüber
der medienpolitischen Verfassung – den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auch nicht
unabhängig vom privaten beobachten und umgekehrt. Deshalb hat der „Grundstandard“ der Vielfalt, den man den Privatsendern rundfunkrechtlich zumuten und abverlangen wollte, heute eine ganz andere Bedeutung als noch vor 10 bis 15 Jahren. Dies gilt auch für die Produktionsbedingungen der Privaten selbst: Diese sehen sich langfristig einer Erosion der Werbefinanzierung ausgesetzt, die offensichtlich erhebliche Auswirkungen auf das Programm hat. Dies gilt wiederum ebenso für die Presse.

Wie darauf zu antworten ist, ja, ob es überhaupt Antworten gibt, ist ungewiss
Jedenfalls muss man sich rechtzeitig auf die Vernetzung aller Medien einstellen und
fragen, ob dies nicht dazu nötigt, Vielfalt im öffentlich-rechtlichen wie privat-kommerziellen Rundfunk (einschließlich der Spartenprogramme) anders zu sehen als
bisher. Das könnte bedeuten, dass man den privaten Veranstaltern einerseits höhere
Anforderungen auferlegen würde, einen selbst definierten Vielfaltstandard auch zu
erfüllen, und andererseits deren finanzielle Basis stärken und dadurch zugleich eine
Verringerung der (privaten) Vollprogramme anstreben würde. Die vielfach gelobte
quantitative Vielfalt privater Programme führt auch dazu, dass sich offenbar ein
ausdifferenziertes Pay-TV-Angebot in Deutschland nicht entwickeln kann. Auch das
kann einen Verlust an Vielfalt mit sich bringen. Im Übrigen ist es unter den Bedingungen der bisherigen Fernsehökonomie offenbar nicht so, dass mehr Programme auch mehr Vielfalt bedeuten. Das Gegenteil kann der Fall sein! Erfolgreiche Sendeformate werden immer wieder kopiert, weil man so – und zum Beispiel durch die Anwerbung von Stars – die hohe Ungewissheit der Akzeptanz einer Sendung, die durch das Nadelöhr der Primetime passen muss, begrenzen zu können meint.

Die alte duale Rundfunkordnung basierte auf der Annahme, dass wir einen
„Marktrundfunk“ und einen politischen „Integrationsrundfunk“ jenseits des Marktes
nebeneinander institutionalisieren. Doch der Markt war und ist ein Fernsehmarkt mit
erheblichen Besonderheiten sowohl gegenüber den allgemeinen Waren- und Leistungsmärkten als auch dem Zeitungsmarkt: Eine dieser Besonderheiten besteht zum Beispiel darin, dass der Abnehmer der Leistung des privaten Rundfunks keine Gegenleistung für den Empfang erbringt; seine „Gegenleistung“ besteht darin, dass er Aufmerksamkeit für die Werbung entwickelt, die ihn eigentlich nicht interessiert. Ein
besonderes Problem für die privaten Programmanbieter besteht darin, dass die Fragmentierung der Bedürfnisse und Interessen gerade die zahlungskräftigen potenziellen Zuschauer schwer berechenbar macht – deren Fernsehkonsum geht zurück. Deshalb wenden sich die privaten Programme, was wiederum eigentlich marktwidrig ist, primär an die leichter erreichbaren Unterschichten mit ihren schlichten Erwartungen und geraten dadurch in einen Teufelskreis: Sie halten zwar Zuschauer, verlieren jedoch gerade die besonders interessanten zahlungskräftigen Schichten in noch höherem Maße, und zwar nicht an das öffentlich-rechtliche Fernsehen, sondern an das Internet.

Umgekehrt erbringt der Zuschauer für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (über
die Gebührenzahlung) eine Leistung, auch wenn er die Gegenleistung (das Programm)
gar nicht in Anspruch nimmt. Diese Paradoxie muss durch relativ hohe Einschaltquoten
abgespannt werden, da eine allzu starke Konkurrenz der – marktwidrig – „kostenlosen“
privaten Angebote die pauschale „Kostenpflicht“ (Gebührenpflicht) der Nichtnutzer
politisch unter Legitimationsdruck stellen würde. Es gibt also in der dualen
Rundfunkordnung auf der einen Seite einen Fernseh(teil)markt der privaten Anbieter
und auf der anderen Seite einen öffentlich-rechtlich finanzierten und durch Binnenorganisationsrecht institutionalisierten Rundfunk, der aber sein Programm seinerseits auf einem – die Grenzen zwischen beiden Säulen einebnenden – Meta-Markt in Konkurrenz zu den Privaten anbieten muss und seinerseits von den Folgen des Dilemmas der Privaten erfasst wird. Die „dritte Dimension“ des dualen Rundfunks, der
Wettbewerb auf diesem Meta-Markt, ist institutionell immer vernachlässigt worden.
Er wird nur punktuell thematisiert, etwa wenn es um die durch Organisationsentscheidung initiierte „Programmexpansion“ der Öffentlich-Rechtlichen geht. Ob man aber den hier sogenannten Meta-Markt, auf dem private und öffentlich-rechtliche Programme miteinander konkurrieren, nicht institutionell eigenständig regeln muss (zum Beispiel durch schärfere Profilierung der öffentlich-rechtlichen Angebote), ist nie genauer geprüft worden. Man hat sich (fast) allein auf die Binnenkontrolle der Anstalten selbst verlassen.

Es ist aber in umgekehrter Richtung auch nicht gefragt worden, ob die Vielfaltkontrolle nicht auf die Privaten über den formalen und inzwischen entleerten „Grundstandard“ hinaus erweitert werden muss, weil zwangsläufig eine Wechselwirkung
zwischen den beiden Säulen der dualen Rundfunkordnung einsetzt. Dass das private
Fernsehen das öffentlich-rechtliche unter Druck setzt, ist vielfach belegt worden. Die
bisher diskutierten Anreize zur Steigerung der Qualität in privaten Programmen
(Erleichterung bei der Werberegulierung etc., vgl. FK 13/11, S. 17) sind offenbar zu
schwach, da die beschriebenen strukturellen Gründe eine nennenswerte Wirkung
verhindern würden. Wenn man daran etwas ändern wollte, so müsste man ernsthaft
über die Subventionierung bestimmter Programmanteile der Privaten (ebenso wie der
überregionalen Zeitungen) nachdenken. Sonst werden sich die privaten Programme
zwangsläufig weiter zum „Unterschichtenfernsehen“ entwickeln – und in dieser
Eigenschaft auch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk weiter unter Druck setzen. Dies
ist nur für diejenigen keine düstere Perspektive, die Heilserwartungen an das Internet
haben, weil sie die „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ (Georg Franck) des Internets
ignorieren.

IV.
Die Medienordnung ist seit dem Ende der „Rundfunkverfassungsrechtsprechung“
nicht nur ein wenig geöffnet, sie ist in mehreren Schüben grundlegend verändert
worden. Es hat sich gezeigt, dass die Fernsehökonomie sich von der Ökonomie der das
Medienrecht im Übrigen prägenden Printmedien fundamental unterscheidet: Das
Fernsehen kann eben nur unter Monopolbedingungen eine „Bündelungsfunktion“
uneingeschränkt erfüllen, sonst steht es in der Primetime von 19.00 bis 22.00 Uhr
ständig unter einem Quotendruck, der auch durch die Verbreitung von immer leichter
zu bedienenden Aufzeichnungsgeräten (noch?) nicht wesentlich abgemildert worden
ist. Inzwischen zeigt sich, dass auch die Bündelungsfunktion der Printmedien durch
die Verbreitung des Internets und seiner Hybridmedien („Me Media“) gefährdet wird.
Die Ambivalenzen des Internets, das eben auch einen Tsunami von Gedanken- und
Gefühlsschlamm ausgelöst hat, der früher – Gott sei Dank! – einfach durch die Struktur
der Massenmedien in erträgliche Kanäle geleitet worden ist, werden aber aufgrund
des verbreiteten Jugendwahns kaum differenziert beobachtet.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk kann nicht einfach den Jugendlichen ins Netz
folgen, ohne dass im Rundfunk und im Rundfunkrecht eine Vorstellung davon entwickelt und institutionalisiert worden ist, was eigentlich das Internet in der neuen Medienwelt bedeutet. Und davon kann keine Rede sein. Dass auch im Internet verfassungsrechtlich „alles seinen Gang geht“, haben der frühere Bundesverfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier und der Jurist Meinhard Schröder in einem Rechtsgutachten bestätigt (vgl. FK 32/10), das jedenfalls keinerlei Vorstellung davon vermittelt, wie rasant sich die duale Rundfunkordnung gewandelt hat. Die öffentlich-rechtlichen Anstalten müssen und können sicher auch im Internet eine Rolle übernehmen. Das setzt jedoch voraus, dass man weiß, dass man sich auf einem verminten Terrain bewegt. Das Auftreten neuer Medien hat noch nie dazu geführt, dass die alten verschwunden wären, aber die neuen und die alten Medien treten nicht friedlich nebeneinander, sondern sie konkurrieren – und zwar nicht als gleiche: Am Ende haben sich die neuen Medien mindestens teilweise die alten anverwandelt, auch wenn diese fortbestehen.

Rundfunk und Printmedien stehen in Zeiten des Internets unter einem enormen
Anpassungsdruck. Das Problem ist umso drängender, als es – wie gezeigt – nicht nur
um neue Medien geht, die zu den alten hinzutreten, sondern ein neues komplexes
Netzwerk von Netzwerken entsteht, innerhalb dessen auch die klassischen Medien,
soweit sie fortbestehen, einem grundlegenden Wandel unterworfen werden, dessen
oberflächliche Erscheinungsform etwa darin zu sehen ist, dass auch Printmedien
online gehen (müssen). Weil dies ebenfalls für das Fernsehen gilt, werden auch die
Grenzen zwischen den Medien selbst durchlässig; an diese Grenzen knüpft aber der
sich auf Presse, Rundfunk und Film beziehende Artikel 5 (Absatz 1) des Grundgesetzes
an.

V.
In Zeiten des Internets und der dadurch gegebenen fragmentierten Verbreitungsvielfalt
stellt sich durchaus die Frage, ob es medienpolitisch nicht erforderlich und
grundrechtlich unbedenklich ist, medienübergreifend – sowohl für den öffentlich-rechtlichen als auch für den privaten Rundfunk, aber auch für die Presse – die Bündelungsfunktion von Medien organisatorisch wie finanziell zu sichern, wenn es zugleich eine starke Tendenz zur Zersplitterung in den „Me Media“ des Internets gibt. Bündelung bedeutet nicht nur die Attraktion von Zuschauern oder das Schnüren eines
Programmpakets (statt der Verbreitung von Programmsplittern), sondern auch von
finanziellen Mitteln, die für Qualität von Programmen erforderlich sind.

Dies könnte auch eine durchaus realistische Perspektive sein sowohl für die Professionellen persönlich als auch gegenständlich für die Programminhalte, während die Inhalteproduktion (im Unterschied zur Verbreitung) im Internet weitgehend von
Amateuren beherrscht wird. Das ist nicht negativ gemeint, aber viele kulturelle Formen
werden sich im Internet nicht entwickeln lassen, weil man dafür nur kleine
Publikumsfragmente mobilisieren kann und die im Internet verbreitete Gratis-Mentalität
offenbar kaum zu bekämpfen ist. Darüber sollte man sich durch den Überschwang
von Net-Nerds für Internet-Bastelarbeiten und das neoromantische Schwärmen für
Internet-Communities, in denen alles „selbst gemacht“ wird, nicht hinwegtäuschen
lassen – doch diese Hoffnung ist wohlfeil: Der neue Jugendwahn war an der unsäglichen Hysterisierung (von Debatte kann keine Rede sein) über „Zensur“ im Internet deutlich zu erkennen, wo zugleich die technische Unmöglichkeit der Sperre des Zugangs zu Kinderpornografie und ein grundrechtlicher Skandal behauptet worden
sind. Das (technisch kaum einfachere) Löschen von strafbaren Inhalten soll aber von
der Zugangssperre qualitativ unterschieden sein. Das verstehe, wer will!

Der Jugendmedienschutz ist auch ein Fall, an dem sich die Auswirkungen des
Internets auf die Medienwelt insgesamt zeigen, und zwar nicht einmal primär wegen
seines grenzüberschreitenden Charakters. Zwar ist es richtig, dass die Durchsetzung
weltweiter Standards schon von der technologischen Seite her sehr schwierig wäre.
Man muss aber auch bedenken, dass zum Beispiel in den USA die einflussreiche
American Civil Liberties Union (ACLU) so gut wie jede Gesetzesinitiative auf dem
Gebiet des Jugendmedienschutzes unter Berufung auf das vollkommen abstrakt
bleibende Prinzip der Verhinderung von chilling effects erbittert bekämpft. Das rechtliche Vorgehen gegen jedes, auch offensichtlich die Würde zum Beispiel von Lehrern schwer beeinträchtigende Cyber-Mobbing wird von der ACLU als amicus curiae wegen dieser Wirkungen vor Gericht bekämpft, obwohl man auch darüber nachdenken
könnte, dass das chilling mancher Äußerungsformen sehr fruchtbar sein könnte.
Vielleicht sollte auch die gängige Verbreitung von Pornografie unter Kindern (nicht
nur Jugendlichen) eine gewisse Aufmerksamkeit verdienen.

Nicht nur die erwähnte Klage der Zeitungsverlage gegen die „Tagesschau“-App
zeigt, dass der Rundfunk im Internet auch in eine Konkurrenz zu den Angeboten der
Printmedien tritt, die ihrerseits durch das Internet insgesamt unter Druck gesetzt
werden. Dies muss eine netzwerkgerechte Medienpolitik heute ebenfalls beachten.
Vor diesem Hintergrund müsste sich ein Verhältnis des (öffentlich-rechtlichen) Rundfunks zu den privaten Printmedien formulieren lassen, das sich nicht von der Illusion der Messbarkeit der Konkurrenzbedingungen fehlleiten lässt. In umgekehrter Richtung könnte man sich auch eine Internet-Strategie des öffentlich-rechtlichen Rundfunks vorstellen, die jenseits der legitimen Programmergänzung die Förderung von Qualität in den Teilen des Internets anstreben würde, die von den Online-Auftritten
der klassischen Medien relativ weit entfernt sind. Das erfordert eine experimentelle
Strategie, die auf Kooperation mit Kreativen im Internet angelegt wäre. Die Verknüpfung mit der Aufgabe des Rundfunks bestünde in der (Gegen-)Reaktion auf die Überwirkungen, die das Internet seinerseits im Rundfunk erzeugt.

VI.
Die neue Konvergenz der Medien innerhalb eines sich herausbildenden Netzwerks
der Netzwerke, hat über die technische Durchlässigkeit zwischen den Medien hinaus
ihrerseits Auswirkungen auf die inhaltliche Dimension gesellschaftlicher Kommunikation
in allen Medien. Dramatisch, aber weniger sichtbar, sind zum Beispiel Veränderungen
der Themenbildung aller alten Medien, die durch den hybriden Charakter der
neuen Medien ausgelöst werden – die Infragestellung der Unterscheidung von Öffentlichkeit und Privatheit wirkt insbesondere auch auf die Printmedien zurück. Dies ist einem neuen, im Juni dieses Jahres erschienenen Bericht der amerikanischen Aufsichtsbehörde Federal Communications Commission (FCC) mit dem Titel „The
Changing Media Landscape in a Broadband Age“ belegt worden (siehe www.fcc.gov/
infoneedsreport): Manche Veränderungen der alten Medien können sicher nicht nur
auf den Aufstieg der neuen Medien zurückgeführt werden, doch der Wandel der alten
Medien korrespondiert auf eine frappierende Weise mit dem Wandel der Formen und
Themen der Kommunikation der neuen Internet-Medien.

Dazu zählt der FCC-Bericht unter anderem den deutlichen Rückgang der Zahl der Redakteure, die in den Printmedien mit den Themen befasst waren, die von den
bisherigen Institutionen der Öffentlichkeit bestimmt waren wie die (amerikanische)
Bundespolitik oder die öffentliche Erziehung (S. 50 ff.). Ein großer Teil der Berichterstattung über diese Themen wandert in Blogs von Journalisten ab, ohne dass
dadurch aber die dramatische Entleerung der Printmedien kompensiert werden könnte.
61 Prozent der Herausgeber von Zeitungen sind der Auffassung, dass die Standards der Presseberichterstattung durch das Auftreten der Internet-Konkurrenz gesenkt worden seien (S. 57). Es wird heute nicht zu Unrecht vermutet (vgl. „FAZ“ vom 9.7.11, S. 33),dass die skandalösen Abhöraktionen der jüngst genau deswegen eingestellten englischen Boulevardzeitung „News of the World“ in doppelter Weise durch das Internet
und seine rüden Formen der Veröffentlichung jenseits der tradierten professionellen
Selbstkontrolle der alten Medien ermöglicht worden seien – und zwar einmal durch
den Druck der Umleitung von Werbeaufkommen zu Lasten der alten Medien; zum
anderen aber, so wäre zu ergänzen, führt der Aufstieg des Internets mit seinen „Me Media“ unmittelbar dazu, dass die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem mehr und mehr verwischt werden. Die Selbstüberschätzung privater Medien lässt auch den Griff nach staatlichen Überwachungsfunktionen denkbar werden.

Auch die Verbreitung einer Vielzahl von Reality-Formaten im Fernsehen, die die
professionelle Form der Sprechens und der Präsentation von Informationen durch die
Redeweise des Alltags ablösen (zum Beispiel Zoosendungen, Kochshows, Talkshows)
wäre ohne das Internet nicht denkbar. Dies ist eine der Paradoxien der Medienentwicklung: Insbesondere die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben einen „Ich-will-da-rein“-Überschwang gegenüber dem Internet entwickelt, der über die Tatsache hinweggeht, dass das Internet schon im Fernsehen „auf Sendung“ gegangen ist.

Insgesamt wird im Übrigen laut dem erwähnten FCC-Bericht infolge des Aufstiegs
der Internet-Medien zwar mehr berichtet, aber der erreichte Adressatenkreis wird
infolge der Fragmentierung der Medien jeweils sehr viel kleiner und spezialisierter
(S. 118 f.). Andererseits lässt sich an Beispielen zeigen, dass die Produktion von Information, die für die lokale Ebene von allgemeinem Interesse sind, zu 90 bis 95 Prozent aus den alten Medien stammt und in den neuen nur neu aggregiert und verteilt wird. Dafür vervielfältigen sich Themen, die sehr viel spezialisierter sind. (Am differenziertesten sind meines Erachtens – der Funktion der „Me Media“ entsprechend – die Informationen, die das Internet selbst, also die Netzpolitik betreffen.) Diese Entwicklung führt dazu, dass die Bündelungsfunktion der um den Staat und die Bürgeröffentlichkeitzentrierten klassischen Medien im Internet an Bedeutung einbüßt (S. 124). Ähnliches gilt für die Subventionsfunktion der Werbung für die klassischen Medien: Internet-Werbung wird sehr viel weniger mit journalistischen Inhalten verknüpft, als dies in klassischen Medien der Fall ist. Der FCC-Bericht nennt diese Entwicklung „the great unbundling“ (S. 127). Durch die Zersplitterung wird insgesamt die Werbung pro Content-Seite im Internet in ihrem Ertrag reduziert.

VII.
Damit soll hier nicht behauptet werden, dass nicht die neuen Medien ihrerseits
gerade durch die Hybridisierung auch neue produktive Formen der öffentlichen Kommunikation hervorbrächten – keineswegs! Das ändert freilich nichts daran, dass die klassischen Medien längerfristig ihren Charakter grundlegend ändern werden und
damit auch die Frage nach einem neuen Medienrecht zugespitzt wird, da die bisherigen
Unterscheidungen und Privilegierungen sehr stark auf bestimmte klassische öffentliche
Funktionen der Medien abgestimmt waren. Das gilt auch für die Bündelungsfunktion
des Fernsehens. In Deutschland mag die in den USA zu beobachtende Entwicklung
noch nicht so weit fortgeschritten sein, es besteht allerdings kein Anlass zu der Annahme, dass sie in Deutschland in eine ganz andere Richtung laufen werde.

In den hier angestellten Überlegungen haben die institutionellen Bedingungen der mit
Trennungen operierenden Medienordnung sowie die Beobachtung ihrer Untergrabung
durch die Konvergenz zu einem übergreifenden Netzwerk der Netze im Vordergrund
gestanden. Die Frage nach der Bedeutung dieser Transformation für die Kultur ist demgegenüber vernachlässigt worden. Das Internet hat insbesondere für Kinder und Jugendlicheaus der Unterschicht durch Verengung der Aufmerksamkeit geradezu die Funktion der Verbreitung von Unwissen. Wichtig erscheint aber für jede Medienpolitik die Erkenntnis, dass alles mit allem zusammenhängt und eine neue Medienpolitik sich darauf einstellen muss. Mit den alljährlichen, auf aktuelle Herausforderungen antwortenden Rundfunkstaatsverträgen allein kann der grundlegende Wandel nicht bewältigt werden.

Dass die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanbieter heute weniger denn je verzichtbar
sind, ist eine Sache. Eine andere ist die Gewährleistung der Qualität der Sendungen
insbesondere im Ersten und im Zweiten Programm in der Primetime. Es wäre rundfunkrechtlich unbedingt erforderlich, eine neues Verfahren zu entwickeln, in dem das Verhältnis des normativ definierten Programmauftrags zu seiner faktischen programmlichen Erfüllung in diesem Zeitfenster unter Beteiligung externen Sachverstandes – auch mit Öffnung für Minderheitsvoten – analysiert und bewertet wird. (In den entsprechenden von den Öffentlich-Rechtlichen in Auftrag gegebenen Untersuchungen – die gibt es durchaus – wird das Zeitfenster gerne weit geöffnet, weil dann auch das vielfach gute Angebot zwischen 22.30 und 0.00 Uhr mit einbezogen werden kann. Das hat das Bundesverfassungsgericht in seinen Randbemerkungen zur Programmqualität im zweiten Rundfunkgebührenurteil nicht berücksichtigt.) Die nach dem Rundfunkstaatsvertrag erforderliche „Selbstverpflichtung“ von ARD und ZDF reicht hier jedenfalls nicht aus. Außerdem brauchen wir eine neue Konzeption für die Online-Angebote der öffentlich-rechtlichen Sender. Auch hier sollte der gebührenfinanzierte Rundfunk etwas anbieten, was die Medienökonomie, hier: die Internet-Ökonomie, nicht ohne weiteres erwarten lässt.

Karl-Heinz Ladeur, Jg. 1943, ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht(Schwerpunkt u.a. Medienrecht) an der Universität Hamburg.

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