Libération

Die am 18. April 1973 unter der Schirmherrschaft von Jean-Paul Sartre gegründete linke Tageszeitung stand bei der Geburt der deutschen „taz“ Pate, sowohl was die Ausrichtung als auch die Rechtsform (Gesellschaft in Arbeiterselbstverwaltung) angeht. „Libération“ gehört heute in Frankreich zu den etablierten „nationalen“ Tageszeitungen, die in Paris erscheinen und in ganz Frankreich vertrieben werden. Sie versteht sich als „linke Morgenzeitung“ gegenüber der „linken Abendzeitung“ („Le Monde“; beide im Berliner Format).

Doch wie „Le Monde“ und alle anderen nationalen Zeitungen steht auch sie wirtschaftlich auf wackligen Füßen. Sie änderte seit Gründung mehrmals Ausrichtung und Layout. Dem entsprechen drei „Lebensabschnitte“, kurz „Libé 1“, „Libé 2“ und „Libé 3“ genannt. Ein vierter begann 2005/06 mit der Übernahme und Rettung der Verlagsgesellschaft durch den Bankier Edouard de Rothschild. Von ihren Lesern einfach „Libé“ genannt, brachte die Zeitung besonders in ihren Gründerjahren frischen Wind in den französischen Journalismus. Paradebeispiele sind die heute noch zuweilen wie Plakate gestalteten Covers, die oft mit Wortspielen formulierten Überschriften sowie die in der Anfangsphase besonders beliebten „Anmerkungen des Sätzers“ („notes de la claviste“ – NDLC), die auch für die „taz“ Vorbild waren.

Die Geschichte der „Libération“ ist untrennbar mit der Entwicklung des linken Partei- und Bewegungsspektrums in Frankreich verknüpft. Sie ist auch erhellend, was die schwierige Einstellung der jüngeren Zeitungsgeneration zum Zeitungsgeschäft angeht. In einer Zeit gegründet, wo das Misstrauen gegenüber der damaligen Verflechtung von Politik und Rundfunk ebenso stark ausgeprägt war wie das marxistische Feindbild von Medien in der Hand des Klassengegners, hat sie sich im Laufe der Jahre grundlegend gewandelt. Aus einer ikonoklastischen und höchst kreativen Gegnerin der bürgerlichen Gesellschaft ist eine Zeitung geworden, die heute selbst zum Establishment gehört.

Basisdaten

Sitz der Herausgebergesellschaft der Zeitung „Libération“:
SARL Libération:
11, rue Béranger
75154 Paris Cedex 03
Tél.: (00 33 1) 42 76 17 89
Télex: 217 656 F
Internet: www.liberation.fr

Rechtsform: GmbH
Seit Februar 2007 stehen der Gesellschaft ein Vorstand und ein Aufsichtsrat vor (eine in Frankreich noch relativ seltene Struktur, die besonders in den Medien verbreitet ist).
Beschäftigte: 200, darunter 130 Journalisten

Werbezentrale:
Espaces Libération
11, rue Béranger
F – 75 003 Paris
Tel.: (00 33 1) 44 78 30 62 Fax : (00 33 1) 44 78 30 69

Geschäftsführung/Vorstand (Schlüsselpositionen):

  • Geschäftsführer : Nathalie Collin und Laurent Joffrin
  • Vorstandsvorsitz: Nathalie Collin und Laurent Joffrin
  • Herausgeber: Laurent Joffrin
  • Redaktionsleiter: Laurent Joffrin
  • Stv. Redaktionsleiter: Paul Quinio, Fabrice Rousselot, François Sergent
  • Chefredakteur Printfassung : Stéphanie Aubert
  • Chefredakteur Online-Fassung : Ludovic Blecher

 

Besitzverhältnisse: Die SARL Libération gehört zu 100 % der SA Investissements Presse (Kapital: 15 Millionen €). Deren Aktionäre sind (Stand Januar 2007):
Edouard de Rothschild: 5,8 Millionen € (38,7%), Carlo Caracciolo (einer der Gründer der italienischen Tageszeitung „La Repubblica“): 5 Millionen € (33,3%), Groupe Pathé: 1,5 Millionen € (10 %), Mediascap (Groupe « La Libre Belgique-La Dernière Heure »): 1,2 Millionen €, Suez Communication: 0,3 Millionen €, diverse Persönlichkeiten (darunter Pierre Bergé, André Rousselet, Bernard Henri Lévy, Henri Seydoux): 1,2 Millionen €.

Geschäftsfelder :

Die SARL Libération verlegt 2 Produktgattungen :
- Print: eine Zeitung in Druckfassung : « Libération »
- Online: ein Online-Portal: www.liberation.fr. Es bietet eine Online-Zeitung (nicht identisch mit der Printfassung) mit Regionalausgaben in 8 Großstädten, Special-Interest-Produkten (z. B. Reisen, Eletronische Kommunikationsmedien, Lifefstyle) sowie ein Web.2-Angebot („Libé+“) und ein Radioprogramm („Radio Libé“).

Ökonomische Basisdaten werden nicht veröffentlicht. Allein die Umsatzzahlen für die Jahre 2007 (54 Millionen €) und 2005 (73 Millionen €) sind bekannt (Quelle: Ecole Supérieure de journalisme de Lille). Regelmäßig wird über horrende Verluste berichtet, doch präzise Daten sind nicht erhältlich.

Vertrieb hauptsächlich im Einzelverkauf. Der Anteil der Abonnements liegt unterhalb von 10% (genau 8,45% im März 2009; Quelle: OFD).

 

Tab. I: Entwicklung der verkauften Auflage der Tageszeitung "Libération" (Jahresdurchschnitt)
20082007200620052004
128 330137 831133 270142 557146 109

Quelle: OJD

 

Tab. II: Entwicklung der Besucherfrequenz von liberation.fr (Monatsdurchschnitt)
MonatBesucherAbgerufene SeitenSeiten/Besucher
April 0913 193 85053 798 5864,08
März 0913 234 50055 794 7054,22
Februar 0911 989 02651 104 3184,26
Januar 0912 641 70757 039 5604,51
Dezember 0811 029 05548 306 0604,38
November 0812 270 20454 247 332 4,42
Oktober12 142 17753 103 7904,37
September 0811 355 36132 536 5182,87
August 089 549 17328 171 9502,95
Juli 0811 296 32833 459 4122,96
Juni 0811 506 25132 152 7412,79
Mai 0810 774 72730 228 4662,81

Quelle: OJD

Struktur der Leserschaft:
Männer 63,1 % ; Frauen 36,9 %
Zwei Drittel unter 50 Jahren (61,8 %)
Überwiegend Akademiker (72,5%)
Über zwei Drittel Städter (68,9%), davon fast die Hälfte (43%) im Ballungsraum Paris

Leserdichte: 3,2 Leser pro Ausgabe.
(Quelle: EPIQ 2006-2007 LNM, www.espaces-liberation.fr)

Geschichte und Profil

Die erste Ausgabe von „Libération“ ist am 22. Mai 1973 am Kiosk erhältlich, wirklich regelmäßig erscheint sie jedoch erst ab dem 18. November 1974. Die Zeitung war von Jean-Paul Sartre, Serge July, Philippe Gavi, Bernard Lallement und Jean-Claude Vernier gegründet worden. Herausgeber und Leiter der Redaktion ist zu Beginn Jean-Paul Sartre, ebenfalls Herausgeber von „La Cause du peuple“ (Organ der Proletarischen Linken); er zieht sich im Mai 1974 aus Gesundheitsgründen zurück. Die Nachfolge teilen sich Zina Rouabah (Generaldirektorin) und Serge July (Redaktionsleiter), der dieses Amt bis Ende Juni 2006 bekleidet.

„Libé 1“ (1973-1981)
Der Namen einer 1964 eingestellten Résistance-Zeitung entliehene Name ist Programm. „Volk, ergreif das Wort und erhalte es dir!“, so das Motto, das sich die Zeitung in einem am 3 Februar 1973 veröffentlichten Manifest (die politische Charta der Zeitung) gab. Von Linksextremen aller Schattierungen, darunter zahlreiche Maoisten, ins Leben gerufen, schreibt sie die 68er Bewegung fort und versteht sich politisch von Anfang an als Gegenöffentlichkeit zum etablierten linken Spektrum, das „Le Monde“ (sozialistisch und z. T. kommunistisch) sowie „L’Humanité“ (Organ der kommunistischen Partei) vertreten. Um die Unabhängigkeit der Zeitung vom „Kapital“ zu gewährleisten, verzichtet sie auf Werbung und finanziert sich zunächst dadurch, dass sie in den Wochen vor dem Erscheinen der ersten Ausgabe zur Subskription aufruft. Die Sponti-Ideologie prägt auch die Struktur wie das Selbstverständnis der Redaktion, in Form von Selbstverwaltung und Gleichstellung bzw. gleicher Entlohnung aller Mitarbeiter. Eine etabliertere Rechtsform gibt sich das Unternehmen erst im Herbst 1974, als die GmbH (SARL) Libération gegründet wird; doch die interne Organisationsstruktur ändert sich nicht.

Kernanliegen der Zeitung in dieser Phase ist der Kampf gegen Unterdrückung jeder Art, was zu einer bunten Themenmischung führt, wo alle Erscheinungsformen der ‚Gegenkultur’ auftreten (Homosexualität, Anti-Psychiatrie, Feminismus, neuartige Musikrichtungen, Comics, Sex, Drogen usw.).
Die Sympathie für „“Opfer des Systems“ macht auch vor Gewaltverbrechern nicht halt, und in „Public Enemy No. 1“ Jacques Mesrine findet die Zeitung einen archetypischen Außenseiter-Helden (sein Leben wurde mehrmals verfilmt, zuletzt 2008 von François Richet). Eine Weile gilt ihre Sympathie auch der islamistischen Bewegung (Ayatollah Khomeiny lebte damals in der Nähe von Paris) ebenso wie autonomistischen und sogar terroristischen Strömungen, bis die Redaktion im Herbst 1977 der RAF klar den Rücken kehrt. Und damit das Ende der Maoisten und der Proletarischen Linken in der Belegschaft besiegelt.
Eine Grundtendenz, die sich bis heute hält, ist die Solidarisierung mit der „Arbeiterklasse“. Das berühmteste Beispiel für die Berichterstattungen aus dieser Gründerzeit bilden die Solidaritätsbekundungen mit der Belegschaft des Uhrenherstellers LIP (Besançon), die sich 1973-76 gegen den Konkurs des Unternehmens zur Wehr setzte und deren Bewegung – mit Betriebsbesetzungen, Selbstverwaltung und Eigenverkauf der Produktion – ein starkes Medienecho erzeugte.

„Libération“ zeichnet sich journalistisch von Anfang an durch eine rege Kreativität aus. Das meint nicht nur Humor und mutige Karikaturen oder drastische Tabubrüche, auch das Erfinden neuer Rubriken gehört dazu, so etwa Gerichtsberichterstattung (Alltag der Schnellverfahren). Einen historischen Stellenwert haben sogar die Kontaktanzeigen, die in ihrer Deutlichkeit wie in ihrer Fülle alles bisher bekannte übertreffen und hin und wieder Verfahren wegen Sittenwidrigkeit nach sich ziehen.

Die Periode „Libé 1“ endet im Mai 1981, zu einem Zeitpunkt, wo alle Zeitungen in Frankreich beginnen, unter dem Leserschwund zu leiden. Die diversen linksextremen Einstellungen in der Redaktion, die sich kontinuierlich einen regelrechten Grabenkrieg lieferten, versiegen Stück für Stück und allmählich zeichnet sich eine Abkehr vom Extremismus ab. Nach all den Jahren der Bohême stellt die Wirklichkeit ihre Forderungen. Die chronisch defizitäre „Libé“ (Auflage 1980: 35 000 Exemplare) braucht dingend frische Geldquellen und ein radikales Umdenken ist angesagt. Am 16. Februar 1981 verkündet Serge July ein Manifest: “Wir müssen dezidiert modern sein“. Damit wird das Ende der Sponti-Zeit besiegelt. Die Redaktion wird verschlankt, Serge July wird anlässlich einer Generalversammlung am 21. Februar offiziell zum „Chef“ ernannt (Gegenstimmen sehen darin eher einen Putsch), und die Zeitung stellt ein paar Wochen lang das Erscheinen ein. Die letzte Ausgabe (22.02.1981) dieser Epoche trägt einen Trauerflor, Seite eins titelt: „Libération, je t’aime, moi non plus“ (nach dem berüchtigten Lied von Serge Gainsbourg und Jane Birkin).

„Libé 2“ (1981-1994)
Am 13. Mai 1981 erscheint „Libération“ in neuem Gewand, ganz offiziell als „Libé 2“ präsentiert. Ab dem Frühjahr 1982 öffnet sich die Zeitung für Werbung und Anzeigen. Doch das genügt nicht, um die finanzielle Basis zu sichern. Die Herausgebergesellschaft braucht frisches Kapital, nicht mehr nur Bankkredite. Am 26 Januar 1983 wird in einer knappen Pressemeldung die Gründung einer Kapitalgesellschaft („Communication et Participation“) angekündigt, die sich in Höhe von 9,09 % (10 Millionen Francs) an der SARL Libération beteiligt. Die neuen Anteilseigner sind Unternehmer, darunter Gilbert Trigano (Club Med) oder Jean und Antoine Riboud (BSN, Vorgänger von Danone). Zwar liefert sich dadurch die Zeitung scheinbar dem „Großkapital“ aus, doch weist sie zur Beruhigung aller darauf hin, dass es sich ja um linksorientierte Industriebosse handelt, die sich ausschließlich zum Ziel gesetzt haben, die mittlerweile moderat linksorientierte Zeitung zu unterstützen.

Dennoch ist es ein entscheidender Paradigmenwechsel der Unternehmenskultur. Nicht nur die Selbstverwaltung, sondern auch die Sperrminorität, die sich die Belegschaft gesichert hatte, ist nicht mehr zeitgemäß. „Überschüsse erwirtschaften, das ist die Norm“, betont Serge July in einem Interview mit dem Fachblatt „Stratégies“ (19.12.1988). In diesem Jahr überschreiten die externen Kapitaleigner die Grenze von 34 %. Neue Gesellschafter sind hinzu gekommen: Jérôme Seydoux (Chargeurs), Antoine Guichard (Handelskette Casino), Louis Descours (Schuhhersteller André) oder Gustave Leven (Perrier). Industriekapital ist keineswegs in der „Medienindustrie“ (Jack Lang, damals Kulturminister) verpönt. Im Gegenteil. Der Wahlsieg Mitterrands eröffnete ein neues Zeitalter, in dem sich die Medienlandschaft plötzlich öffnete, aber zur Finanzierung der neuen Medien allein Industriekapital zur Verfügung steht, da die Banken damals noch mehrheitlich in Staatshand sind. Auch „Libération“ mischt mit, startet 1984 „Radio-Libération“ auf dem erst kürzlich erschlossenen UKW-Band (ein Jahr später wieder eingestellt) und entdeckt als neue Einkunftsquelle das Business Modell der erotischen Angebote im damaligen Bildschirmtext („Minitel“). 1988 ist ein absolutes Rekordjahr: Die Verkaufsauflage steigt auf 192 700 Exemplare. Aber in dem Jahr wurde auch die 1977 gegründete, ebenfalls linke Konkurrenz („Le Matin de Paris“, Tageszeitung des Nachrichtenmagazins „Le Nouvel Observateur“) wieder eingestellt.

In der Blütezeit der 80er Jahre, wo der Regierungswechsel den meisten linken Zeitungen bis auf „Le Monde“ zu Gute kam, zeigt sich „Libération“ auch sehr kreativ, was das Marketing angeht. Die Cover werden zu Events. Am 21. Mai, der Tag, an dem Präsident Mitterrand sein Amt antritt und von Fernsehkameras begleitet mit einer Rose in der Hand den Panthéon-Palast betritt, präsentiert sich „Libération“ in Rosa und mit Rosenparfüm. Ein Jahr zuvor, anlässlich des Papst-Besuches im Frankreich (Juni 1980) war schon eine Weihrauchduft ausströmende „Libération“ erschienen. Und am 8. Oktober 1986, als die französische Textilindustrie ihren neuen Kurs präsentiert, veröffentlicht die Zeitung ein Supplement (160 000 Exemplare) – vollständig auf Stoff gedruckt: „Libération Chiffon“. Dieses bewusst provozierende Marketing-Konzept hält sich bis heute.

Doch „Libération“ bleibt finanziell angeschlagen und schlägt die Flucht nach vorn ein, wobei sich der Verlag bei Diversifizierung des Medienangebots und redaktionellen Inhalts übernimmt. So wird 1992 z. B. die 1986 gegründete Regionalausgabe „Lyon-Libération“ wieder eingestellt. In diesem Jahr sinkt die Auflage auf 170 500 Exemplare. Als Gegenmaßnahme wird am 19. November 1992 eine Wochenend-Beilage gestartet. Und es wird die Aufnahme neuer Bankkredite sowie eine Kapitalerhöhung beschlossen (insgesamt 60 Millionen Francs). Und es werden neue Aktionäre gewonnen, darunter 1993 Jérôme Seydoux (Chargeurs), dem Mitterrand zusammen mit Silvio Berlusconi ermächtigt hatte, 1984 den neu gegründeten TV-Kanal „La Cinq“ zu starten, und der seitdem sein Medienengagement gesteigert hatte (z. B. „Le Nouvel Observateur“, „Le Matin de Paris“).

„Libé 3“ (1994-2005)
Die Zeitung startet erneut einen Relaunch. Am 26. September 1994 erscheint das neue Konzept („Libé 3): eine nüchternere Aufmachung, mehr Service und ein Umfang von 80 Seiten. Die Redaktion wird konsequent aufgestockt, mit der Zielvorgabe, bis 2000 die Verkaufsauflage zu verdoppeln. Nach nur 8 Wochen erweist sich das neue Format als Flop, und der Verlag schreibt erneut rote Zahlen (70 Millionen Francs). Im Februar 1995 wird wieder ein Sparplan (50 Millionen Francs) verabschiedet: Die Seitenzahl fällt wieder auf 52 zurück, die Wochenend-Beilage wird aufgegeben (im April) und es werden betriebsbedingte Kündigungen eingeleitet. Nach einigen Änderungen im Management wird das Konzept der Tageszeitung erneut verändert und verschlankt. Und „Libération“ geht online. Doch Ende 1995 erreicht das Defizit des Verlags über 100 Millionen Francs.

Im Januar 1996 übernimmt der Mischkonzern Chargeurs im Rahmen einer Kapitalerhöhung von 70 Millionen Francs die Kontrolle über die Verlagsgesellschaft. Er hält jetzt 66 % der Anteile. Der Anteil der Gesellschaft „Communication et Participation“ ist auf 14 % gesunken, die Belegschaft hat mit nur noch 20 % endgültig die Sperrminorität verloren. Um die innere Pressefreiheit zu erhalten, wird für die Redaktion ein „Unabhängigkeitspakt“ geschlossen, der – für französische Verhältnisse neu – ähnliche Regeln wie in deutschen Tendenzbetrieben einführt. Die Belegschaft stimmt dem Rettungsplan, inklusive 80 Kündigungen, mit großer Mehrheit zu.

Es geht wieder berauf. Nach mehreren Wechseln an der Spitze der Redaktion etabliert sich die Zeitung bei ihrer Kernzielgruppe: die „bourgeois bohême“ (kurz: BoBo), wie das Pariser Milieu der „Yuppies“ genannt wird. 1999 schreibt der Verlag das dritte Jahr in Folge schwarze Zahlen. Das Nettoergebnis erreicht 17,5 Millionen Francs bei einem Umsatz von 537,7 Millionen Francs (12 % mehr als 1996).

Doch im April 2000 kündigt die Pathé-Gruppe, inzwischen zum Hauptaktionär (60,6 % des Kapitals) aufgestiegen, an, dass sie aussteigt. Im Oktober sinkt ihr Anteil auf 20%, die Belegschaft ist mit 36,4 % wieder Hauptaktionär, und es gesellen sich neue Anteilseigner hinzu: der britische Investmentfonds 3i (20%) sowie diverse Mediengesellschaften. „Libération“ diversifiziert sich zur Mediengruppe und zum Plattformanbieter – und übernimmt sich dabei wieder. Die Seitenzahl wird wieder reduziert, eine neue Kündigungswelle rollt. 2001 erreicht der Verlust 7 Millionen Euro und sinkt bis 2003 auf 1,7 Millionen.

Die Zeitung, die inzwischen den Fokus verstärkt auf Fakten und auf kürzere Berichterstattung setzt, muss sich mit einer neuen Konkurrenz auseinandersetzen: den Gratiszeitungen, die zu Beginn des Jahrtausends starten und ebenfalls die Zielgruppe der jüngeren Städter anvisieren. Im Oktober 2003 ändert „Libération“ wieder das Layout (es wird bunter) und versucht mit einer größeren Ereignisorientierung den Kreis der Leserschaft zu erweitern, insbesondere die Zielgruppe der Frauen und der Nichtleser. Es werden gezielt verkaufsfördernde Ausgaben für den Kioskverkauf produziert, so z. B. während des Präsidentschaftswahlkampfs 2002 gegen Jean-Marie Le Pen gerichtete Angriffe. Am Tag nach dem ersten Wahlgang ist auf der Titelseite nur das Foto des Kandidaten des front National zu sehen mit der fetten Aufschrift „Non“; von dieser Ausgabe werden 700 000 Exemplare verkauft.

Doch in diesen Jahren, in denen die strukturellen Probleme der französischen Presse deutlich zu Tage treten (zu hohe Druck- und Vertriebskosten, lückenhaftes Vertriebsnetz, Heranwachsen einer neuen Generation von Nutzern, die Online-Medien bevorzugt), sinkt auch die Verkaufsauflage von „Libération“ von 2001 bis 2005 um 20 %.

Einstieg Rothschilds und Abgang Julys
Am 20. Januar 2005 segnet der Verwaltungsrat den Einstieg des Bankiers Edouard de Rothschild ab; die Belegschaft hat mehrheitlich (57,3 %) zugestimmt. Der neue Mehrheitsgesellschafter übernimmt knapp 39 % der Anteile, die SPCL hält weiterhin eine Sperrminorität von 18,45 %. Es steht wieder eine Sanierung an. Rothschild fordert einen professionelleren Kurs der Redaktion. Doch bald kippt das Klima um, und im November wird gegen den Abbau von 52 Stellen gestreikt. Die Zeitung verliert weiterhin Geld, und am 10. März 2006 unterstreicht Serge July öffentlich, dass die Zeitung für 2007 einen Überschuss anstrebt. Dass gleichzeitig 56 Kündigungen auf freiwilliger Basis entschieden wurden, schürt den schwelenden Brand in der Zeitung. Zwar startet im Mai eine neue Wochenend-Beilage („Libé week-end“), doch ändert das nichts, die Situation bleibt gespannt.

Am 13. Juni 2006 verkündet S. July der Redaktion den Willen Rothschilds: Dieser rekapitalisiere den Verlag nur unter der Bedingung, dass S. July und Generaldirekto Louis Dreyfus gehen. Der Schock über die ‚Kündigung’ einer der Gründer  ist groß und wird entsprechend in den Medien thematisiert. „Le Monde“ leistet Beistand. Und E. de Rothschild kontert am 6. Juli in der Abendzeitung: „Libération braucht Hilfe und geistigen , intellektuellen wie finanziellen Beistand – kein Requiem“. Am 22. November übernimmt Laurent Joffrin den Posten des Herausgebers und den des Redaktionsleiters. Im Januar 2007 kommt es zu einer erneuten Kapitaländerung (s. o.). Bei diesem Anlass wird die Verlagsgesellschaft in eine (nicht börsennotierte) AG umgewandelt und erhält ein neues Organigramm mit Vorstand und Aufsichtsrat. Bei derselben Gelegenheit tritt die Mitarbeitergesellschaft Société civile des personnels de Libération (SCPL) aus dem Gesellschafterkreis der neuen Holding aus und gibt ihr Vetorecht in allen Angelegenheiten – außer bei der Ernennung des Redaktionsleiters – weitgehend ab.

Das Layout der Zeitung wird erneut geändert, diesmal nur leicht. Und der Wahlkampf in der ersten Jahreshälfte (bei dem „Libération“ für Ségolène Royal Partei ergreift) steigert den Verkauf für das Gesamtjahr. Eine Eintagsfliege aber blieb der gelungene PR-Coup ein Jahr später: Am 21. Juni, ein Samstag, war Carla Bruni Chefredakteurin der Zeitung. Just zu dem Zeitpunkt, wo die Werbekampagne für ihre neue CD anlief…

Aktuelle Entwicklungen und Ausblick

Nun macht die Wirtschaftskrise und die damit verbundene Rezession auf dem französischen Werbemarkt der weiter schwächelnden Zeitung zu schaffen. Ein neuer Sparplan ist angesagt. Zwischen 1,5 und 2 Millionen Euro braucht die Zeitung, um ihr Defizit zu reduzieren. Zudem soll das Kapital um 2 bis 3 Millionen Euro erhöht werden, wie Herausgeber Laurent Joffrin am 24. April 2009 verkündete. Auch Pech spielt mit: Ende 2008 verstarb Carlo Caracciolo, der zweite Großaktionär der Zeitung. Wie die Nachfolge geregelt werden soll, bleibt unklar.

Aber so oder so, ein weiterer Relaunch ist geplant. Alles soll sich ändern, nur das Logo nicht. Die neue Ausrichtung von Libération beschreibt Joffrin so: „Nachrichten allein reichen nicht mehr. Wir müssen eine Zeitung des intelligenten Berichts sein, nicht mehr nur allein der Ankündigungen und der Polemik“ („le Figaro“, 24.04.2009).

Referenzen/Literatur

  • ALEXANDRE Pierre, Les patrons de presse : quinze ans d’histoires secrètes de la presse écrite en France (1082-1997), Anne Carrière, Paris, 1997
  • SAMUELSON François, Il était une fois Libération, Flammarion, Paris, 2007 (2. Auflage)
  • AESCHIMANN Eric, Libération et ses fantômes, Seuil, Paris, 2007
  • GAVI Philippe und BENQUET Patrick, ‘Libération’. Je t’aime, moi non plus…, Dokumentarfilm (52’), am 20. 05. 2008 von France 5 gesendet
  • GUISNEL Jean, Libération. La biographie, La Découverte, Paris, 1999
  • HOCKENGHEM Guy, Lettre ouverte à ceux qui sont passés du col mao au Rotary, Editions Agone, Marseille, 1986
  • JULY Serge, l’ex-gauche prolétarienne était ‘libertaire-autoritaire’, Libération est libéral-libertaire , in Esprit, Mai 1978
  • LALLEMENT Bernard, Libé, l’œuvre impossible de Sartre, Albin Michel, Paris, 2004
  • RIMBERT Pierre, Libération : de Sartre à Rothschild, Raisons d’agir, Paris, 2005
  • WALK Aurélie (Hg.), Les Petites Annonces de Libé 1973-1981, Nouveau Monde éditions, Paris, 2007
  • www.acrimed.org
  • www.observatoiredesmedias.com